Die Erzählwerkstatt
sammelt und schreibt Lebensgeschichten von Menschen, die aus anderen
Ländern zu uns in die Region Heilbronn gekommen sind. Auch die Geschichten
ihrer Kinder oder Enkel, die mit beiden Kulturen aufgewachsen sind, sind
willkommen. Gegründet wurde die Erzählwerkstatt von Christel Banghard-Jöst
und Lilo Klug, seit 2017 wird sie betreut von Angelika Hart und Frank
Lutz, die als ehrenamtliche Redakteure die Erzähler begleiten.
Wir möchten Sie ermutigen, Ihre Geschichte oder wichtige Episoden aus
Ihrem Leben aufzuschreiben oder uns zu erzählen. Wir finden, Ihre
Lebensläufe sind zu wertvoll, zu interessant um einfach vergessen zu
werden, denn sie gehören zu unserer gemeinsamen Geschichte. Wir laden
Mitbürger ein, die in Heilbronn oder Umgebung ihren Lebensmittelpunkt und
vielleicht auch eine Heimat gefunden haben, uns von ihren Träumen, ihren
Zielen aber auch von ihrer Lebensrealität hier in Deutschland zu erzählen.
Die Erzähler haben die Möglichkeit ihre Geschichte selbst nieder zu
schreiben oder sie unseren ehrenamtlich arbeitenden Redakteuren zu
erzählen, die das Schreiben dann übernehmen. Die Erzähler können außerdem
ihre Geschichte in das Archiv dieser Webseite stellen und damit vielen
Menschen zugänglich machen.
Viele der aufgeschriebenen Geschichten werden bei Leseveranstaltungen in
Zusammenarbeit mit der Bildungsreferentin Ingrid Wegerhoff und der keb (
Katholische Erwachsenenbildung Stadt- und Landkreis Heilbronn e.V. ) im
Rahmen eines Erzählcafé präsentiert.
Dieses Projekt wird
unterstützt von Elisabeth Böhme.
Weitere Geschichten
aus der Erzählwerkstatt finden Sie auch hier
(☛ diaphania)
Erzähler
Imran
Amin
Neuanfang
im fremden Land
Imran Amin,
geboren 1978 in Pakistan
Das Leben kann brutal sein. Manchmal bringt es einen völlig unschuldig
in eine schlimme Situation. Dann ist man gezwungen, alles hinter sich
zu lassen, was einem lieb und teuer ist – Heimat, Familie, Freunde,
Arbeitsstelle – und muss am anderen Ende der Welt noch einmal ganz von
vorne anfangen. Genauso ist es mir ergangen. Doch so ist das Leben nun
einmal: Man muss alles so nehmen, wie es kommt. Ich versuche, immer
mein Bestes zu geben und ehrlich und respektvoll mit meinen
Mitmenschen umzugehen, alles andere überlasse ich meinem Gott. Ich
weiß, dass er immer für mich da ist. Es gab harte Zeiten, aber ich
habe die Hoffnung niemals aufgegeben. Ich bin gestärkt aus allen
Prüfungen hervorgegangen und habe viel daraus gelernt. Und ich weiß,
dass ich das alles niemals geschafft hätte, wenn ich nicht auf Gott
vertraut hätte.
Die schönste Stadt
Mein Name ist Imran Amin und ich stamme aus Pakistan. Genauer gesagt
aus Lahore, nur eine halbe Fahrtstunde von der indischen Grenze
entfernt. Lahore ist für mich die schönste Stadt in meinem Land. Na
ja, vielleicht bin ich nicht ganz unparteiisch, aber auch andere Leute
schwärmen von Lahore: Viele Zugezogene bezeichnen die Stadt als ihre
Heimat, auch wenn sie erst seit drei oder vier Jahren dort leben.
Was so besonders an Lahore ist? Vielleicht sind es die leckeren
Speisen, für welche die Stadt in ganz Pakistan berühmt ist. Vor allem
aber sind es die freundlichen, hilfsbereiten Menschen. Sie sind
spontan und kontaktfreudig. Und sehr großzügig: Sie laden einen sofort
zum Essen oder Teetrinken ein, auch wenn sie einen gerade erst
kennengelernt haben. Ich wollte niemals woanders leben, weil ich meine
Stadt liebe. Doch das Schicksal wollte es anders.
Aufgewachsen bin ich im Stadtzentrum. Mein Vater betrieb in unserem
Haus ein Lederwarengeschäft, meine Mutter war Hausfrau. Ich habe zwei
Schwestern und einen Bruder und bin das Nesthäkchen der Familie. In
unserer Nachbarschaft gibt es viele Teestuben. Dort sitzen die Männer
stundenlang zusammen, trinken Tee und diskutieren über Sport oder
Politik. Die Frauen bleiben zu Hause oder gehen einkaufen. Oft
unterhalten sie sich auch miteinander von Balkon zu Balkon und trinken
dabei Cola, Kaffee oder Tee. Ansonsten gehen sie höchstens einmal in
den Park oder ins Restaurant – so ist das in unserer Kultur. Den
Frauen macht das nichts aus, dass sie die meiste Zeit zu Hause
bleiben, sie kennen es ja nicht anders. Dass die deutschen Frauen oft
einen ganz anderen Lebensstil haben, als ich es von zu Hause gewohnt
bin, macht mir nichts aus. Egal, an welchem Ort der Welt man lebt –
man muss sich Mühe geben, die Kultur und die Gesellschaft um sich
herum kennenzulernen und sie zu verstehen.
Das Cricket-Virus
Ein Virus, das früher oder später jeden Pakistaner trifft, hat mich
schon in meiner Kindheit befallen: das „Cricket-Virus“: Ich liebe den
pakistanischen Nationalsport, den die britischen Kolonialherren einst
in unser Land gebracht haben. Mit sechs Jahren fing ich selbst an, mit
anderen Jungen aus der Nachbarschaft zu spielen. Wir spielten überall:
auf der Straße oder in Parks, oft sechs bis sieben Stunden am Tag. Im
Ramadan fingen wir oft erst abends an, nachdem wir unser Fasten
gebrochen hatten. Dann wurde es schon mal 2 Uhr morgens, bis wir genug
hatten. Als Kind war es mein Traum, Profisportler zu werden. Erst viel
später erkannte ich, dass das nicht möglich war, weil ich sehr viel
Geld gebraucht hätte, um mir die teure Ausrüstung zuzulegen und einem
Verein beizutreten. Als ich dann im Berufsleben stand, blieb mir
leider immer weniger Zeit für Cricket, und seit acht oder neun Jahren
spiele ich gar nicht mehr. Aber ich verfolge die Spiele unserer
Nationalmannschaft immer noch über das Internet mit.
Ich verbinde so viele Erinnerungen mit Cricket: Zum Beispiel an meine
Abschlussprüfung, die ich 1992 am Ende des achten Schuljahrs ablegen
musste. Just an diesem Tag traf Pakistan im Halbfinale der Cricket-WM
auf Neuseeland. Natürlich waren meine Gedanken nicht bei der Prüfung,
sondern bei unserem Nationalteam. Wie glücklich war ich, als Pakistan
gewann, ins Finale einzog und dort auch noch über England
triumphierte. Wir waren Weltmeister! Was war das nur für ein Fest in
den Straßen! Überall in den Teestuben liefen die Fernseher und
übertrugen das Spiel. Groß war die Freude auch immer, wenn wir unseren
Rivalen Indien besiegten. Dann durfte man in manchen Cafés gratis
essen. Wenn unser Team aber verlor, dann fluchten die Leute noch
tagelang über unsere Spieler. Wir Pakistaner sind halt verrückt –
Cricket-verrückt.
Harter Schulalltag
Cricket war für mich immer eine willkommene Abwechslung zum
Schulalltag, denn der war oft sehr hart. Jeden Morgen stand ich um 7
Uhr auf und hatte von 8 bis 13 Uhr Unterricht. Von 13 bis 15 Uhr
hatten wir Pause, und dann ging es weiter zur Hausaufgabenbetreuung in
einer anderen Schule bis 19 oder 20 Uhr. Nur freitags hatten wir frei.
Dann gingen wir zum Freitagsgebet in die Moschee, was immer etwas
Besonderes für uns war.
An der Schule ging es sehr streng zu: Wir bekamen immer sehr viele
Hausaufgaben und durften niemals zu spät kommen, sonst setzte es harte
Strafen: Wir bekamen Schläge, wurden für zehn Minuten vor die Tür
geschickt oder mussten 10 bis 20 Minuten in gebückter Haltung vor der
Klasse stehen. Und wer seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte, kam
erst gar nicht zum Unterricht – aus Angst, bestraft zu werden.
Trotzdem wagte ich es, manchmal die Schule zu schwänzen – natürlich um
Cricket zu spielen. Einmal haben mich meine Eltern erwischt und ich
bekam gleich zweimal Schläge: erst zu Hause und dann noch einmal von
meinem Lehrer. Vor der gesamten Schülerschaft hat er mich verdroschen
– danach war ich eine kleine Berühmtheit. Doch ich konnte es einfach
nicht lassen, und beim nächsten Mal war ich schlauer: Ich wartete die
Anwesenheitskontrolle ab, ging dann zur Toilette, kam aber nicht mehr
zurück. In der Zwischenzeit nahmen meine Freunde meine Schultasche
unauffällig vom Tisch und legten sie auf den Boden. Diesmal wurde ich
nicht erwischt. Viele meiner Freunde folgten danach meinem Beispiel.
Ich habe halt schon immer gerne Unsinn gemacht. Mein Humor hat mich
später oft davor bewahrt, am Leben zu verzweifeln.
Hinter heiligen Gemäuern
Neben meiner Familie, der Schule und meinem geliebten Sport gab es
noch etwas, das meine Kindheit und Jugend in Pakistan geprägt hat:
meine Religion. Seitdem ich zwölf oder 13 Jahre alt war, bestanden
meine Eltern darauf, dass ich fünfmal am Tag zum Beten in die Moschee
ging. Dafür war sogar eine kurze Abwesenheit vom Unterricht erlaubt.
Ich nahm meine religiösen Pflichten sehr ernst. Als ich 18 Jahre alt
war, zog ich mich während des Fastenmonats für zehn Tage komplett vor
der Außenwelt in die Moschee zurück, was viele Männer in meinem Land
tun. In der vollkommenen Abgeschiedenheit des heiligen Gemäuers kam
ich innerlich zur Ruhe. Den ganzen Tag beteten wir gemeinsam, lasen im
Koran und in theologischen Büchern. Morgens und abends brachten die
Eltern mir etwas zu essen. Ich habe das später noch einige Male
wiederholt, und jedes Mal war es eine wunderbare Erfahrung für mich.
Ich habe sogar gemerkt, dass danach viele meiner Wünsche in Erfüllung
gingen. Ich glaube fest daran, dass Gott mir hilft, meine Probleme zu
lösen, wenn ich dafür bete.
Ein Wink des Schicksals
Alles in allem hatte ich eine unbeschwerte Kindheit – bis zu dem Tag,
an dem meine Mutter krank wurde. Ein Krebsgeschwür hatte ihre Brust
befallen, und die Ärzte gaben ihr nicht mehr viele Überlebenschancen.
Ich erinnere mich noch genau, wie sie mich damals auf dem Balkon ganz
fest in ihre Arme nahm. Sie sorgte sich, wer für mich da wäre, wenn
sie nicht mehr leben würde. Schließlich war ich ja der Jüngste in der
Familie. Vielleicht hat ihr die Sorge um mich neue Kraft gegeben.
Jedenfalls geschah ein Wunder: Meine Mutter wurde wieder gesund,
nachdem die Ärzte ihr die Brust amputiert hatten. 25 Jahre sollte sie
noch leben.
Für mich aber war ihre Krankheit ein einschneidendes Erlebnis: Ich
habe damals gemerkt, dass es in unserem Land oft schwierig ist,
Medikamente zu bekommen und dass die Apotheker oft keine Ahnung haben.
Vielleicht ist damals schon mein Entschluss gefallen, dass ich
Apotheker werden wollte. Ich wollte anderen Menschen helfen.
Und so führte mich mein Weg nach dem Abitur an die Universität meiner
Heimatstadt, wo ich Pharmazie studierte. Danach arbeitete ich sechs
Jahre lang als Apotheker, die letzten drei Jahre übernahm ich sogar
die Geschäftsleitung. Ich liebte es, die Kunden zu beraten. Ich
bemühte mich, ärmeren Menschen günstige Medikamente zu beschaffen. Ich
war für mein großes Wissen geschätzt und bekam den Ruf, ein wandelndes
Pharmazie-Lexikon zu sein. Ich hatte alles, was ich zum Leben
brauchte, und war ein glücklicher Mensch.
Knapp dem Tod entronnen
Eines Tages trat der Terror in mein Leben und nichts sollte mehr so
sein, wie es war. Das Leben kann brutal sein. Es bringt einen völlig
unschuldig in eine schlimme Situation. Dann ist man gezwungen, alles
hinter sich zu lassen, was einem lieb und teuer ist und muss am
anderen Ende der Welt noch einmal ganz von vorne anfangen.
Es war irgendwann zwischen 2006 und 2008, da änderte sich die Lage in
meinem Land. Vorher hatten wir niemals Angst gehabt, das Haus zu
verlassen, doch plötzlich gab es immer mehr furchtbare Bombenanschläge
und sogar Selbstmordattentate an stark belebten öffentlichen Plätzen.
Auf einmal mussten wir befürchten, nicht mehr lebend zurückzukehren,
wenn wir aus dem Haus gingen. Wir begannen, die Orte zu meiden, an
denen viel los war. Es hätte mir also jederzeit etwas passieren
können, und doch rechnete ich nicht damit. Der Terror war präsent um
mich herum und doch gehörte er nicht zu meinem Leben – bis zu jenem
schicksalshaften Tag im Jahr 2012.
Eigentlich sollte es ein fröhlicher Ausflug mit meinem Bruder und
sechs Freunden werden. Wir wollten nach Teheran fahren und hatten
extra ein Visum dafür beantragt. Ich war aufgeregt, denn es sollte das
erste Mal sein, dass ich ins Ausland reiste.
Stundenlang waren wir mit dem Bus unterwegs. Alles ging glatt und wir
befanden uns kurz vor der iranischen Grenze. Da passierte es: Auf
einmal sprang eine Gruppe bewaffneter Männer auf die Straße. Sie
stoppten den Bus und befahlen allen Leuten auszusteigen. Doch kaum
verließen die Ersten den Bus, eröffneten sie sofort das Feuer. Mein
Bruder, meine Freunde und ich saßen in Todesangst im Bus und
versuchten uns zu wegzuducken. Es ging alles so schnell. Draußen
fielen die Schüsse und die Menschen starben.
Ich habe mich oft gefragt, warum die Terroristen unseren Bus
angegriffen haben. Ich vermute, weil die meisten Passagiere Schiiten
waren. Auch einige Christen befanden sich an Bord. Als sunnitischer
Muslim war ich also nur durch einen unglücklichen Zufall in diese
Situation hineingeraten.
Nach vielleicht sieben Minuten hörten wir Polizeisirenen. Die Rettung
nahte: Mehrere Polizeiautos fuhren auf ihrer routinemäßigen Patrouille
auf uns zu. Die Terroristen ergriffen die Flucht. Wir verließen den
Bus und berichteten den Polizisten, was passiert war. Ich sah all die
toten Körper auf dem Boden liegen – vielleicht 30 Menschen, darunter
Frauen, alte Männer und Kinder. Es war ein grausiger Anblick. Doch wir
hatten überlebt. Wir hatten ungeheures Glück gehabt. Aber wir hatten
auch furchtbare Angst, dass der Alptraum noch nicht vorüber war.
Natürlich setzten wir an diesem Tag unsere Reise nicht fort, sondern
fuhren mit dem nächsten Bus nach Lahore zurück. Am nächsten Tag ging
ich zur Polizei und meldete auch dort den Vorfall. Doch die Polizisten
sagten, dass sie mir nicht helfen konnten.
In den folgenden Wochen hatte ich viel Angst. Trotzdem kehrte zunächst
wieder der Alltag in mein Leben ein, bis zum zweiten Vorfall, der mein
Leben veränderte: Zwei bis drei Monate nach dem Vorfall im Bus kehrte
mein Bruder nicht nach Hause zurück. Um ein Uhr morgens fragten mich
meine Eltern, wo er sei. Ich wusste es nicht und seine Freunde wussten
es auch nicht. Er war vorher von Fremden bedroht worden: Ich sollte
meine Aussage widerrufen oder sie würden ihn töten. Ich vermute, dass
er von diesen Leuten entführt wurde. Nie wieder habe ich etwas von ihm
gehört.
Ich verstand damals, dass auch mein Leben in größter Gefahr war. Ein
Mann aus der Sozialorganisation Jaffria Scouts, bei der ich seit
Jahren ehrenamtlich mitarbeitete, gab mir einen Tipp: Ich sollte
fliehen und das Land verlassen. Nach Deutschland sollte ich gehen,
weil das Leben dort sicher sei. Er vermittelte mir einen Fluchthelfer,
der alles für mich plante. Nach einem traurigen Abschied von meiner
Familie verließ ich zum ersten Mal in meinem Leben mein Land und
wusste nicht, ob ich es jemals wiedersehen würde.
Manche Flüchtlinge haben eine monatelange, oft lebensgefährliche Reise
hinter sich, wenn sie in Deutschland ankommen. Ich nicht: Ich stieg
einfach in Lahore ins Flugzeug und verließ es in Deutschland wieder.
Sicher hatte ich großes Glück, dass alles so einfach ging. Doch der
Nachteil war, dass ich keine Zeit gehabt hatte, mich auf mein neues
Leben vorzubereiten.
Mitten in der Nacht kam ich in dem für mich völlig fremden Land an. In
welcher Stadt ich zum ersten Mal deutschen Boden betreten habe, weiß
ich bis heute nicht und werde es vielleicht auch nie erfahren. Am
Flughafen wartete ein Kontaktmann auf mich. Er lieferte mich bei der
Landeserstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Karlsruhe ab. Ich ging
hinein und ließ mich registrieren. Der Mann versprach, draußen auf
mich zu warten. Doch als ich wieder herauskam, war er verschwunden.
Ich hatte ihm vorher alle meine wichtigen Papiere gegeben.
Meine lange Leidenszeit
Ich war also ganz allein – tausende Kilometer von zu Hause entfernt,
ohne Papiere und ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Es war meine erste
Berührung mit dem Thema Flucht und Asyl. Zwar nimmt auch Pakistan
viele Flüchtlinge auf – vor allem Menschen aus dem Nachbarland
Afghanistan, die vor Krieg und Terror geflohen sind. Was viele Leute
nicht wissen: Pakistan gehört weltweit sogar zu den Ländern, welche
die meisten Flüchtlinge aufnehmen. Doch ich hatte mich nie mit dem
Thema befasst, weil ich zu beschäftigt mit meinem eigenen Leben war.
Nun aber war ich selbst zu einem Flüchtling geworden und mir wurde
klar, dass jeder Mensch auf der Welt in eine solche Situation geraten
kann.
Ich fühlte mich unwohl unter so vielen Menschen, mit denen ich mich
oft kaum verständigen konnte. Ich hatte Angst und verhielt mich ruhig.
Auf keinen Fall wollte ich Ärger mit einem meiner Mitbewohner haben.
Acht, manchmal auch zehn Leute wohnten auf meinem Zimmer. Privatsphäre
gab es nicht. Das war so schwierig für mich.
34 Tage lang blieb ich in Karlsruhe, dann wurde ich in die
Sammelunterkunft nach Künzelsau weiterversetzt. Doch dort wurde alles
noch schlimmer: Wieder lebten wir zu acht in einem kleinen Zimmer. Die
Stimmung war angespannt, und fast täglich gab es Schlägereien. Manche
Leute aus der Unterkunft rauchten Joints oder verkauften Drogen.
Einmal wurden zwei von ihnen von der Polizei festgenommen.
Ich bin mein ganzes Leben kerngesund gewesen, doch nach drei Monaten
in Künzelsau wurde ich plötzlich krank: Zuerst juckte meine Kopfhaut
an einigen Stellen und schälte sich. Ich unternahm zuerst nichts und
hoffte, dass ich von selbst wieder gesund werden würde. Doch die
Krankheit breitete sich immer weiter aus und nach einigen Monaten war
mein ganzer Körper befallen. Ich konnte nun nicht mehr verbergen, dass
ich krank war. Meine Mitbewohner sahen es und gingen mir aus dem Weg.
Ich ging zum Arzt in Künzelsau, doch er hatte keine Ahnung, woran ich
litt. Ein Jahr lang schleppte ich die Krankheit mit mir herum und
hatte keinen blassen Schimmer, was mit mir los war und ob es etwas
Gefährliches oder Ansteckendes war. Erst dann ließ ich mich von einem
anderen Arzt in Öhringen untersuchen, der die richtige Diagnose
stellte: Ich hatte die Schuppenflechte, ausgelöst durch den schweren
seelischen Stress, dem ich im Wohnheim ausgesetzt war. Diese Krankheit
ist ungefährlich und nicht ansteckend, aber sie beeinträchtigt mich
oft stark. Immer wenn ich zu viele Sorgen und Stress habe, breitet sie
sich wieder über meinen Körper aus. Die Medikamente, die ich nehme,
lindern die Symptome, heilen können sie mich aber nicht. Ich muss für
den Rest meiner Tage mit dieser Krankheit leben.
Mehrere Male ging ich damals zum Landratsamt und bat um ein
Einzelzimmer, weil meine Mitbewohner mich wegen meiner Krankheit
diskriminierten. Doch alles war vergeblich. Das Einzige, was ich
erreichte, war, dass ich nach einem Jahr ins Öhringer Flüchtlingsheim
versetzt wurde. Doch auch dort war die Lage kaum besser.
Noch während meiner Zeit in Künzelsau traf mich ein weiterer
Schicksalsschlag: Meine Mutter starb. Ihr Brustkrebs war zurückgekehrt
und sie hatte ihm nichts mehr entgegensetzen können. Einen Tag vor
ihrem Tod haben wir noch miteinander telefoniert. Ich fühlte mich so
hilflos. Ich wollte ihr in ihren letzten Stunden beistehen und bei ihr
sein, als es mit ihr zu Ende ging. Aber ich konnte nichts für sie tun.
Ich konnte ja nicht einfach in meine Heimat zurückkehren. Ich war so
geschockt, als ich die Nachricht von ihrem Tod hörte. Ich fühlte mich
wie gelähmt und wusste nicht, was ich tun sollte. Nur ein Jahr später
sollte ich auch noch meinen Vater verlieren. Im gleichen Monat wie
meine Mutter – im schicksalshaften Februar – starb er an einer
Lungenkrankheit. Zuletzt war ihm das Atmen immer schwerer gefallen.
Ich glaube, er starb auch an gebrochenem Herzen, weil er in so kurzer
Zeit meinen Bruder, mich und meine Mutter verloren hat – drei
Menschen, die er über alles geliebt hat.
Alte und neue Heimat
Erst als ich nach zwei Jahren aus dem Heim ausziehen durfte,
verbesserte sich meine Situation allmählich. Ich fand einen Job als
Küchenhilfe im Wald- und Schlosshotel Friedrichsruhe. Wieder glaube
ich, dass Gott mir dabei geholfen hat: Im Bewerbungsgespräch sagte ich
ehrlich, dass ich noch keine Erfahrung in der Küche hatte, aber dass
ich mein Bestes geben wollte. Ich bekam meine Chance und nutzte sie:
Ich arbeitete hart und wurde dafür von meinem Chef und den Kollegen
respektiert. Mit der Zeit sind viele von ihnen meine Freunde geworden.
Bald konnte ich mir ein eigenes Zimmer leisten, dann zog ich in eine
Wohngemeinschaft mit einem anderen Hotelmitarbeiter.
Inzwischen ist Deutschland zu meiner zweiten Heimat geworden. Viele
Dinge laufen hier zwar total anders ab als in Pakistan: Pünktlichkeit
spielt eine wichtige Rolle. Die Leute verspäten sich nie, sogar die
Züge fahren pünktlich ab. Außerdem gibt es hier sehr viele Regeln,
aber man braucht sie auch, denn sonst würde nichts funktionieren.
Dafür findet man in Deutschland keine gepanschten Lebensmittel, was in
Pakistan öfter vorkommt.
Manchmal finde ich es schwierig, mit den Deutschen Kontakt
aufzunehmen, weil sie immer so beschäftigt sind. Aber das hängt immer
von der Person ab. Ich habe hier auch sehr viele freundliche und
hilfsbereite Menschen getroffen.
Nur manchmal fühle ich, dass es einen versteckten Rassismus gibt. Die
Leute sagen das nicht direkt, aber sie geben mir zum Beispiel auf der
Arbeit schwere Aufgaben, für die sich selbst zu schade sind. Bevor ich
eine Arbeit gefunden hatte, war es noch schlimmer: Viele Mitarbeiter
auf dem Rathaus oder auf dem Landratsamt gingen arrogant mit mir um.
Ich erinnere mich besonders daran, wie unfreundlich die Mitarbeiterin
im Asylbewerberheim reagierte, als ich ihr von meinem neuen Job
erzählte. Erst nach einem Kontrollanruf auf meiner Arbeitsstelle
glaubte sie mir und wurde plötzlich sehr freundlich.
Ich denke, dass einige Leute große Vorurteile gegen Asylbewerber haben
und sie nicht einmal als menschliche Wesen betrachten. Sie wissen
nicht, dass jeder in so eine Situation geraten kann. Aber so ist das
nun einmal: Manche Leute sind sehr nett, manche sind schlecht. Das ist
überall so und hat nichts mit dem Land zu tun.
Jeder sollte das Recht haben, hierherzukommen oder in ein anderes Land
auszuwandern. Aber wer hierherkommt, sollte sich gut benehmen. Ich mag
es nicht, wenn manche Leute stehlen, wie ich es im Kaufland gesehen
habe. Und jeder sollte die Sprache lernen, besonders wenn er auch kein
Englisch spricht. Ich finde es sehr schade, dass ich in meinen ersten
zwei Jahren in Deutschland nicht genug Geld für einen Sprachkurs hatte
und danach zu beschäftigt mit meiner Arbeit war, um einen Kurs zu
besuchen. Heute kann ich mich ganz gut auf Deutsch ausdrücken, aber es
hat zweieinhalb Jahre gedauert, bis ich soweit war.
Beeindruckend finde ich, wie die Deutschen ihr Land nach dem Zweiten
Weltkrieg wiederaufgebaut haben. Ich mag es, wenn ein Volk versucht,
auf eigenen Füßen zu stehen, wenn die Leute sagen: „Yes, we can. Wir
akzeptieren die Herausforderungen.“ Sicher hat es in der
Nachkriegszeit keine Korruption in Deutschland gegeben. Genauso war es
auch in Pakistan, nachdem wir 1947 unsere Unabhängigkeit von
Großbritannien erlangt hatten. Heute dagegen ist Korruption ein großes
Problem in Pakistan. So viele talentierte Leute verlassen das Land,
weil sie keine Perspektive mehr sehen.
Obwohl ich mich in Deutschland ganz gut eingelebt habe, vermisse ich
mein Land oft: meine Familie, meine Freunde, meinen früheren
Arbeitsplatz, die ganze Lebensweise. Und ich hätte gern jemanden in
meiner Nähe, mit dem ich meine Muttersprache Urdu sprechen kann. Auch
Cricket fehlt mir, aber die Spiele kann ich ja noch über das Internet
mitverfolgen. Nur meine Eltern vermisse ich über alles. Es macht mich
so traurig, dass ich nicht bei ihnen sein konnte, als es mit ihnen zu
Ende ging, und dass ich noch nicht einmal an ihrer Beerdigung
teilnehmen konnte.
Wenn ich aber zurückblicke, bereue ich nichts. Ich bin kein reicher
Mann, aber ich habe genug zum Leben und ich danke Gott dafür. Ich bin
zufrieden damit, denn Geld und Luxus sind mir nicht wichtig. Es war
die richtige Entscheidung, dass ich nach Deutschland gekommen bin,
denn wäre ich in Pakistan geblieben, wäre ich vielleicht nicht mehr am
Leben. Vielleicht bleibe ich für immer hier. Ich würde zwar gerne
wieder nach Pakistan reisen und auch andere Städte besuchen, die ich
noch nicht kenne. Aber ich weiß nicht, ob ich ganz zurückkehren würde,
denn ich könnte wieder in Lebensgefahr geraten. Immerhin ist die Lage
in Pakistan inzwischen sicherer geworden. Seit zwei Jahren gibt es
immer weniger Selbstmordattentate, weil die Armee jetzt für Sicherheit
sorgt. Ich bin stolz auf unsere Armee. Doch in den letzten Wochen
haben die Terroristen wieder mehrmals zugeschlagen, einmal auch in
meiner Heimatstadt Lahore. Das macht mich traurig und wütend. Ich
verstehe nicht, wie Menschen so etwas tun können. Denn ich habe ja
selbst erlebt, dass Terrorismus ganze Familien auseinanderbringen
kann, selbst wenn die Betroffenen einen Terroranschlag überleben.
Manchmal war das Leben hart zu mir. Ich bin völlig unschuldig in eine
schlimme Situation geraten und musste alles zurücklassen, was mir lieb
und teuer ist. Doch ich habe es geschafft, am anderen Ende der Welt
noch einmal ganz von vorne anzufangen. So ist das Leben nun einmal:
Man muss alles so nehmen, wie es kommt. Ich versuche, immer mein
Bestes zu geben und ehrlich und respektvoll mit meinen Mitmenschen
umzugehen, alles andere überlasse ich meinem Gott. Ich weiß, dass er
immer für mich da ist. Es gab harte Zeiten, aber ich habe die Hoffnung
niemals aufgegeben. Ich bin gestärkt aus allen Prüfungen
hervorgegangen und habe viel daraus gelernt. Und ich weiß, dass ich
alles schaffen kann, solange ich auf Gott vertraue.
Diese
Lebensgeschichte wurde von Frank Lutz weitererzählt.
Lisa
Böhme
Hast du
Hunger, hast du Durst, geh zu Lisa, iss ‘ne Wurst!
Es ist genau
15 Uhr und ich klingle bei Frau Lisa Böhme. Wir sind verabredet. Sie
möchte mir ihre Lebensgeschichte erzählen und ich habe es gerade noch
pünktlich in diese schöne Wohnsiedlung mit Blick auf den Breitenauer
See geschafft. Eine jugendlich wirkende, sehr adrette ältere Dame
öffnet die Tür und bittet mich ins Haus. Auf dem Esstisch im
großzügigen Wohnzimmer stehen Kaffee und einige appetitliche
Tortenstücke. Die werden wir beide wohl beim besten Willen nicht
aufessen können. Lisa Böhme ist 91 und eine hervorragende Gastgeberin.
Und sie hat sich einiges in ihrem Leben erarbeite. Sie beginnt zu
erzählen.
Ich komme aus Wiesenhagen. Also früher hieß es Neuendorf. Aber es gab
so viele Neuendorfs, dass man es umbenannt hatte. Wiesenhagen liegt
zwischen Trebbin und Luckenwalde, südlich von Berlin. Meine Eltern
hatten einen Bauernhof und dort bin ich mit meinen zwei Brüdern
aufgewachsen. Wir gingen in eine achtklassige Dorfschule mit nur einem
Lehrer und ich und meine Freundin waren diejenigen, die sich um die
Erstklässler kümmern mussten, weil der Dorflehrer es nicht schaffte,
alle zu unterrichten. Die Neuankömmlinge saßen auf dem Flur, weil es
nicht genug Platz im Schulraum gab und dort unterrichteten wir
abwechselnd die erste Klasse.
Dann kam der Krieg, ich war damals elf Jahre alt und meine Vater wurde
als Soldat eingezogen. Als ich mit der Schule fertig war, mitten im
Krieg, bestürmte mein Lehrer meine Mutter, mich nach Bayern zu
schicken. Man hatte mir ein Freistelle in Oberbayern auf einem Gut
angeboten. Ich sollte Landwirtschaft studieren. Das hätte meiner
Mutter nicht einen Groschen gekostet, aber meine Mutter fragte: Wie
stellst du dir das vor? Der Papa ist Soldat. Wer soll denn hier die
Arbeit machen? Die Kühe melken und die Schweine füttern? Und so
mussten wir, meine Brüder und ich, weiter auf unserem Hof arbeiten und
meiner Mutter helfen. Mein 11 Monate älterer Bruder wurde mit 16
Jahren eingezogen und starb schon mit 17 Jahren an einer schweren
Verwundung.
Das Kriegsende war ein ganz einschneidendes Erlebnis für mich. Meine
Mutter versteckte mich, als die Russen hereinkamen, aber sie haben
mich gefunden. Ich lag danach neun Wochen im Krankenhaus. Das war
schlimm. Da darf ich heute noch nicht daran denken, was damals
geschehen ist.
Wie viele andere Frauen auch arbeitet ich nach dieser schweren Zeit am
Wiederaufbau unseres Landes. Ich wollte meine Anteil leisten. Mit
Bussen wurden wir regelmäßig einmal die Woche nach Berlin gebracht und
dort räumte ich am Potsdamer Platz als Trümmerfrau den Schutt beiseite
und half die Zerstörungen, die der Krieg angerichtet hatte, wieder zu
beseitigen.
Ein kleines Geschäft
Als ich 1951 heiratete, zog ich mit meine Mann nach Ludwigsfelde in
ein Siedlungshaus mit Garten, ganz nah bei Berlin. Mein Mann war
Bauingenieur. Er hat die Plattenbauten in Marzan mit aufgebaut, einer
riesige Wohnsiedlung in Berlin. Westberlin war nicht weit und lockte
mit seinen Angeboten. Mein Mann ging früh aus dem Haus, war den ganzen
Tag auf der Arbeit. Ich sah ihn erst abends wieder. Manchmal
übernachtete er auch in Berlin. Ich wollte aber auch was zu tun haben,
etwas dazu verdienen. Meine Eltern bauten damals Frühgemüse an:
Gurken, grüne Bohnen usw. Und es war natürlich reizvoll, es in
Westberlin zu verkaufen. Die Mark stand damals 1: 5, für eine Westmark
bekam man 5 Ostmark. Und im Osten konnte man viele Sachen nicht
bekommen. In Sachsen standen zwar die großen Strumpffabriken, aber
Perlonstrümpfe hat es im Osten nicht gegeben. Wenn man welche wollte,
musste man sich die aus dem Westen besorgen. Auch Bananen und
Südfrüchte und so was alles. Und ich war jung und wollte schick
angezogen sein und so brachte ich mit meinen zwei Freundinnen unser
Gemüse regelmäßig auf den Markt nach Westberlin. Das war aber streng
verboten.
Jahrelang ging alles ganz gut. Wir kamen mit unseren Taschen immer
unbehelligt über die Grenze am Potsdamer Platz. Aber eines Tages,
1959, haben sie uns erwischt. Ich hatte meinen zweijährigen Sohn
Michael im Kinderwagen dabei als sie uns beobachteten und wir
aussteigen mussten. Meinen Sohn haben sie mir gleich weggenommen. Er
kam sofort zu einer Pflegefamilie nach Ludwigsfelde und wir drei kamen
ins Frauengefängnis Barnimstraße. Man verdächtigte auch meinen Mann.
Ich behauptete aber, mein Mann wüsste nicht, was ich alles nach
Westberlin brachte. Ich hielt das geheim, weil er sonst Gefahr lief,
seine Arbeit zu verlieren und verhaftet zu werden.
Während dieser Zeit saß ich vier Monate in Einzelhaft und schwieg.
Keinerlei Kontakt zu meiner Familie, keine Nachrichten, nichts. Nachts
hieß es oft: Raus treten! Dann kam ich in einen Raum, wurde mit
Scheinwerfern angestrahlt und verhört. Sie versuchten meinem Mann eine
Mitwisserschaft an meinen Geschäften nachzuweisen. Was ihnen aber
nicht gelang. Bei der Verhandlung hieß es dann, ich sei die Anführerin
gewesen. Ich bekam 1 Jahr, die beiden anderen nur ein halbes.
Verurteilt wurde ich wegen Wirtschaftsverbrechen und Verstoß gegen den
Devisenverkehr. Mein Mann kam mich einmal im Monat besuchen. Weil ich
aus der Landwirtschaft kam, teilte man mich dem Hofkommando zu. Ich
musste den Gefängnishof kehren und im Garten arbeiten, war immer an
der frischen Luft. 10 Monate haben ich abgesessen, zwei Monate hat man
mir wegen guter Führung erlassen.
Ultimatum
Mit meiner Ehe stand es nicht zum Besten. Während ich im Gefängnis
war, begann mein Mann eine Affäre mit seiner Sekretärin. Sie wurde
schwanger und wenig später erwartete ich ebenfalls ein Kind von ihm.
Am 20. September 1960 wurde meine Tochter geboren und um meine Ehe zu
retten, bestand ich auf einen Umzug nach Berlin. Ich wollte meinem
Mann näher sein und ihm nicht mehr so viele Gelegenheiten geben, wegen
verpasster Züge nicht nach Hause zu kommen. Der Plan ging leider nicht
auf. Nach einem Jahr war ich so verzweifelt, dass ich meinem Mann ein
Ultimatum stellte. Ich wollte kein Scheidung, aber mit dieser
Situation konnte ich nicht mehr weiter leben. Ich beschloss für einige
Wochen meine Mutter in Crailsheim zu besuchen. Danach sollte mein Mann
eine klare Entscheidung treffen. Seine Sekretärin oder ich.
Mein Vater war 1952 mit TBC aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück
gekommen. Und zu dieser Zeit, wurden auch die Bauernhöfe in
landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften - in Volkseigentum -
umgewandelt. Es war praktisch eine Enteignung und mein Vater sagte:
Wir arbeiten nicht als Knecht und Magd auf unserem Hof, wir gehen in
den Westen. Meine Eltern haben alles stehen und liegen lassen und
landeten 1953 in Crailsheim. Mein Vater wurde sofort in Schwäbisch
Hall wegen seiner TBC behandelt. Er ist nicht mehr gesund geworden und
an dieser Krankheit gestorben.
1961 dann holte meine Mutter mich und meine beiden Kinder in Nürnberg
vom Flugplatz ab. Sie lebte als Rentnerin von einem kleinen
Lastenausgleich, den sie für die Enteignung ihres Landes bekam und
verdiente sich durch das Erledigen kleiner Hausarbeiten noch etwas
hinzu.
Nun hatte ich aber kein Westgeld zur Verfügungen und schaute mich nach
Arbeit um. Mit Hilfe eines Bekannten meiner Mutter, Onkel Josef, fand
ich eine Stelle in einer Kunstblumenfabrik. Dort verdiente ich mir den
Rückflug und flog nach vier Wochen ohne meine Kinder zu meinem Mann
nach Berlin. Ich wollte ihn davon überzeugen, dass wir uns ein neues
Leben in Crailsheim aufbauen könnten. Er würde problemlos Arbeit
finden als Bauingenieur. Mein Mann wollte sich aber nicht von seiner
Sekretärin trennen und auch das Land nicht verlassen.
Also beging ich meine Flucht aus der DDR allein. Ich war nur mit einer
Handtasche in Berlin angekommen, schnell packte ich in meiner Wohnung
ein paar Sachen für meine Kinder und fuhr mit der S-Bahn über die
Grenze nach Westberlin. Ich hatte angst, sie würden mich nochmal
aufgreifen. In Westberlin habe ich mich gemeldet und bat um Hilfe, das
Land zu verlassen. Das war am 8. August 1961, wenige Tage vor dem
Mauerbau.
Der Cannstatter Wasen
Von da an lebte ich also mit meinen Kindern bei meiner Mutter in zwei
Zimmern und arbeitete in zwei Schichten in der Blumenfabrik. In der
Pause unterhielten sich die Frauen über die sagenhaften
Verdienstmöglichkeiten, die der Cannstatter Wasen bot. 100 Mark sollte
man dort an einem Tag angeblich verdienen können! Das hat mich nicht
mehr losgelassen. Nun hatten wir genau zu dieser Zeit Betriebsferien,
als in Cannstatt der Wasen stattfand. Ich setzte mich mit 10 Mark in
den Zug und versuchte mein Glück. Ich hatte überhaupt keine Ahnung von
der Gastwirtschaft. Ich zog von Zelt zu Zelt und fragte, ob sie eine
Bedienung bräuchten. In einem Zelt war die Bedienung ausgefallen. Ich
behauptete, dass ich in Berlin schon in der Gastwirtschaft gearbeitet
hätte und begann ohne jede Kenntnis vom Geschäft als Bedienung zu
arbeiten. Das fiel natürlich auf, aber ich lernte schnell. Am Abend
hatte ich keine Unterkunft, es fuhr kein Zug mehr und so schlief ich
drei Nächte auf einer Parkbank, machte mich auf einer öffentlichen
Toilette ein bisschen zurecht, besorgte mir ein paar Servierschürzen
und was ich sonst noch brauchte. Die Zimmer waren unbezahlbar. Durch
einen glücklichen Zufall nahm mich eine Familie auf, der ich meine
Geschichte von der Flucht und von meinen Kindern erzählte. Von nun an
konnte ich dort auf dem Sofa schlafen. Ich half der Familie im
Haushalt und es entwickelte sich eine feste Freundschaft zwischen uns.
Jedes Jahr zum Cannstatter Wasen konnte ich dann bei ihnen wohnen.
Am Ende des Festes hatte ich 1100 Mark verdient. Ich war auf den
Geschmack gekommen und hatte jetzt auch die entsprechende Erfahrung
mit dem Bedienen. Zurück in Crailsheim sprach ich mit meinem Chef. Ich
wollte nur noch in der Frühschicht arbeiten und abends im Jägerhaus
bedienen. Von fünf bis zwei arbeitet ich in der Fabrik, von sechs bis
Mitternacht im Jägerhaus. Ich war jung, ich wollte ein eigenes Dach
über den Kopf, ich wollte mir ein neues Leben aufbauen.
Bald darauf begann ich auch auf der Muswiese zu arbeiten, am
Wochenende gab mir der Chef vom Jägerhaus dafür frei. Aber nun
brauchte ich ein Auto, ich musste beweglich sein. Ich machte im
Februar 1962 den Führerschein und kaufte mir eine kleinen Holländer,
einen Sundav. Damit fuhr ich bald darauf nach Berlin, um meinen Mann
zu besuchen. Ich wollte ihm zeigen, was man sich im Westen in kurzer
Zeit erarbeiten kann. Vorher erkundigte ich mich im Crailsheimer
Rathaus, ob es für mich wegen meiner Vorstrafe gefährlich werden
konnte in die DDR zu fahren. Aber man versicherte mir, dass ich nichts
zu befürchten hätte: ich hatte meine Strafe ja abgesessen. Also setzte
ich meine Mutter und die Kinder ins Auto und machte mich auf den Weg.
Mein Mann bekam Stielaugen als er das Auto sah. Die Sekretärin war
abgehakt, aber da war schon wieder eine neue Frau in seinem Leben. Sie
saß in unserer Wohnung und war sehr nett. Erstaunlicher Weise
freundeten wir beide uns an.
Neckarlust
1967 kam ein neuer Pächter ins Jägerhaus. Wir verstanden uns nicht
gut. Meine Mutter sagte: Komm, wir fahren mal nach Heilbronn. Det is
ne Weinstadt. Da kannst du vielleicht ganz als Bedienung arbeiten und
musst nicht mehr in die olle Fabrik. In Heilbronn war gerade
Pferdemarkt und ich hatte mir eine Heilbronner Stimme gekauft. Da
stand: die Gaststätte Neckarlust sucht eine Bedienung. Aber die
Neckarlust war nur eine Baracke, gar kein richtiges Lokal, es gefiel
mir überhaupt nicht. Aber meine Mutter bestand darauf, sich mal um zu
schauen. Die Chefin kam auf uns zu und bot mir sofort die Stelle an.
Wir verstanden uns auf Anhieb. Und da ich nicht in Heilbronn wohnte,
überließ sie mir kurzer Hand in Frankenbach ein Zimmer in ihrem Haus.
Unter der Woche sollte ich dort wohnen und am Wochenende zu meinen
Kindern nach Crailsheim fahren. Einen Tag später fing ich in der
Neckarlust an. Die Kinder wusste ich in guter Obhut bei meiner Mutter
in Crailsheim.
Die Neckarlust war eine richtige Arbeiterkneipe. Um Fünf Uhr Morgens
ging es da los. Die Schiffer kamen rein, die haben immer gut Trinkgeld
gegeben. Wir arbeiteten dort auch in Schichten und ich war eigentlich
Mädchen für alles, habe im Ausschank geholfen, geputzt, vormittags
arbeitet ich im Garten meiner Chefin für freie Kost und Logi,
nachmittags dann in der Küche, je nach dem.
Eins Tages betrat Herr Böhme die Neckarlust. Er fuhr für die Spedition
Pfefferkorn als Fahrer. Nach einigen Monaten sagte er: Wissen sie, sie
sind die richtige Frau für mich. Ich mache demnächst ein Lokal auf.
Aber ich bin allein stehend. Ich suche jemanden. Wollen sie nicht für
mich arbeiten. Dann sind sie selbstständig. Es handelte sich um die
Gaststätte Karlseck. Später in meinem Leben sollte ich noch
feststellen: Ich war eine Streberin, Herr Böhme aber war ein
Schürzenjäger und Lebemann.
Karlseck
Onkel Josef war gestorben und ich bat um ein paar freie Tage um meiner
Mutter bei der Beerdigung zu helfen. Ich war gerade zwei Tage zu Hause
in Crailsheim, auf einmal stand Herr Böhme überraschend vor meiner
Tür. Wir machten einen Spaziergang mit den Kinder und meine Mutter
sagte: Guck mal Mächen, jetzt bist du schon so lange allein, wäre doch
schön, wenn du wieder jemanden hättest. Ich war 33. Herr Böhme gefiel
mir wohl, also ging ich auf sein Angebot ein und wurde für drei Jahre
die Geschäftsführerin vom Karlseck. 1967 erfolgte der Umzug nach
Heilbronn, mit Mutter und Kindern, zuerst in die Wollhaus- später dann
in eine größere Wohnung in die Kernerstraße.
Samstags und Sonntags gab es bei uns Tanz, für die Älteren, besonders
für Frauen ab vierzig. Da spielte dann ein Alleinunterhalter. Das kam
sehr gut an. Außerdem hatten wir einige gute Stammgäste. Mein Sohn
brachte uns Mittags das Essen das meine Mutter für uns gekocht hatte.
War was übrig, habe ich es den Gästen angeboten. Die Nachfrage wurde
immer größer, aber wir hatten nur ein kleine Küche. Wir boten dann
auch Brat- und Currywurst aus einem separaten Kiosk neben der
Gastwirtschaft an. Wir könnten doch selber kochen, schlug ich vor.
Aber das war meinem Mann alles zu fiel. Er wollte lieber Karten
spielen und andere für sich arbeiten lassen. Er wollte das Essen nicht
selber heraus tragen. Das sollte eine Bedienung machen. Aber das
konnten wir uns nicht leisten. Die Miete für die Wohnung, der
Unterhalt für seine und meine Kinder. Wir stritten oft um Geld und ich
schuftete wie ein Verrückte. Manchmal bin ich erst um 2 Uhr ins Bett
gekommen und um 9 Uhr machten wir wieder auf. Vorher habe ich noch
geputzt. Das habe ich alles allein gemacht. Ich habe wahnsinnig viel
gearbeitet. Unser Streit gipfelte darin, dass er mich eins Tages nach
hause schickte, ich solle mich um meine Kinder kümmern, er würde sich
eine Bedienung holen.
Bahnsteig Sieben
Freunde vom Stammtisch kannten meine Situation und gaben mir einen
Tipp. Ein gut gehender Kiosk im Industriegebiet sollte verkauft
werden.Tagesumsatz 800 bis 900 Mark. Den Besitzer kannte ich aus der
Neckarlust. Am nächsten Tag um 5 Uhr war ich bei ihm und habe mein
Interesse bekundet. Na Mädle, hast du denn überhaupt Geld? Na wenn ich
kein Geld hätte, würde ich ja den Schuppen hier nicht kaufen wollen,
antwortet ich ziemlich forsch. Aber ich hatte ja keinen Pfennig. 1970
waren wir nach Klingenberg gezogen, ich hatte das Haus gerade gekauft.
Endlich genügend Platz. Aber da steckte mein ganzes Geld drin.
Wir machten einen Notartermin. 65.000 Mark sollte nach Verhandlungen
der Kiosk kosten, plus Mehrwertsteuer. Die erste Hälfte musste sofort
bezahlt werden, der Rest nach vier Wochen. Sollte ich nicht zahlen,
war eine Konventionalstrafe von 3.000 Mark fällig und der Kauf würde
rückgängig gemacht. Das habe ich unterschrieben. Aber jetzt musste ich
das Geld auftreiben.
Ich auf die Bank. Die kannten mich gut und konnten mir trotzdem nur
40.000 Mark geben. Wie weiter? 10.000 bekam ich durch einen
Vertragsabschluss mit Coca-Cola, durch die Abnahme der Getränke würde
das abgegolten. Otto Dietz, den Besitzer der Zigarettenautomaten
kannte ich gut. Ich habe ihn gebeten mir zu helfen. 5.000 Mark wollte
er geben. Nach einer Stunde Ausfragerei nach meinen persönlichen
Verhältnissen bekam ich von ihm 10.000 Mark. Die letzten 5.000 lieh
ich von meinem Bruder Willi.
Jetzt ging ich zu meinem Mann: das hat keinen Wert mehr mit uns
beiden. Ich habe die Scheidung eingereicht. Ich habe mir ein Geschäft
gekauft, den Bahnsteig Sieben. Er konnte es nicht glauben. Er fing
dann an: Können wir das nicht beide machen? Das Karlseck aufgeben, da
kam ja der ganze Streit her, weil wir hier immer so lange hocken
mussten, weil sie Karten gespielt haben. Wir hätten ja dann unsere
Ruhe. Und was hab ich gemacht? Ich habe die Scheidung zurückgezogen.
Ich dachte immer: in jedem Menschen steckt doch irgendwo was gutes.
Und er war immer sehr großzügig zu meinen Kindern. Also versucht ich
es noch mal. Wir haben dann noch 6 Jahre den Bahnsteig Sieben
betrieben und die ersten zwei Jahre liefen sehr gut. Ein
Bombengeschäft.
Morgens um neun musste ein 10 Liter Eimer Kartoffelsalat fertig sein.
Da kamen schon die Fernfahrer und wollten Schnitzel essen. 70 - 80
Brötchen habe ich belegt. Beim Metzger wurde die Wurst geholt. Wir
waren immer etwas billiger als die anderen, aber wir machten viel
Umsatz. Es gab einen langen Tisch mit einer Bank und im Sommer konnten
die Gäste dann draußen sitzen.
Zwei Jahre ging alles gut, dann wurde Herr Böhme unzufrieden. Über dem
Geschäft hing damals ein großes Transparent: Hast du Hunger, hast du
Durst, geh zu Lisa iss ‘ne Wurst. Er fühlte sich zurückgesetzt. Mir
gehörte ja das Haus und das Geschäft. Er legte sich mit den Kunden an
und der Umsatz ging langsam zurück. Ich fand heraus, das er Geld
beiseite schaffte und stellte ihn zur Rede. Er stritt alles ab, aber
es reichte mir. Und diesmal lies ich mich wirklich scheiden. Über
einen Anwalt wollte er Geld von mir. Dann machte er mir mit einem
Verkaufswagen in der Salzstraße Konkurrenz. Sein Geschäft lief aber
nicht, berichteten mir meine Stammkunden.
Später sind wir vor Gericht gelandet, es ging wieder um Geld.
Irgendwann verschwand er mit einem Wohnmobil und einer neuen Frau nach
Sachsen und aus meinem Leben.
Eines Tages bekam meine Mutter einen Schlaganfall, sie sollte nicht in
ein Pflegeheim. Deshalb verkaufte ich das Haus in Klingenberg und ich
suchte eine neue Wohnung in der Nähe meines Geschäftes damit ich mich
um sie kümmern konnte. 1990, mit 62 Jahren, als ich keinen Ersatz für
meine langjährige Mitarbeiterin Frau Roschka fand, musste ich das
Geschäft verkaufen.
Blick auf den Breitenauer See
Mein Ziel war immer meine Altersversorgung zu sichern. Und ohne meine
Mutter, die mir den Rücken freihielt und sich um meine Kinder
kümmerte, hätte ich das nicht geschafft. Ich habe sehr sparsam gelebt,
keinen Urlaub gemacht. Zu Ostern - Karfreitag, Samstag, Sonntag,
Montag - da sind wir nach Österreich gefahren ins Zillertal. Meine
Mutter und die Kinder wurden ins Auto geladen und dann sind wir da
hoch gefahren. Das war unser Jahresurlaub. Und meine Kinder sollten
einen anständigen Beruf lernen. Das war mir ganz wichtig. Mein Sohn
hat eine Lehre als KFZ Mechaniker begonnen, die Meisterprüfung gemacht
und später 12 Jahre beim TÜF in Heilbronn gearbeitet. Meine Tochter
hat Dekorateurin gelernt. Sie ist handwerklich sehr begabt. Zum
Geburtstag wünscht sie sich immer irgendein handwerkliches Gerät.
Mit meinem Sohn zusammen habe ich in Löwenstein dieses Haus gefunden.
Wir hatten die Idee, uns noch einmal gemeinsam ein Haus zu kaufen und
haben lange gesucht. Ich hatte schon gar keine Lust mehr. Es war
einfach nichts dabei was mir gefiel. Dann stand dieses Haus in
Löwenstein in der Zeitung und mein Sohn überredete mich, doch noch mal
eine Besichtigung zu machen. Das Haus hat mir gleich richtig gut
gefallen. Stuckdecken, Marmor, Wintergarten, elektrische Rollläden,
alles sehr gut ausgestattet. Seit 26 Jahren wohne ich jetzt hier. Vor
einiger Zeit ist meine Schwiegertochter hier eingezogen und
unterstützt mich in vielen Bereichen. Ich bin immer noch ganz aktiv
und nehme am Leben teil. Zum Beispiel gehe ich regelmäßig zu den
Proben unseres Chores.
Als ich klein war, saß ich oft mit meiner Oma auf dem Balkon. Dann
tranken wir zusammen Tee und sie erzählte immer interessante
Geschichten – über ihre eigene Kindheit, aber auch über ihre viele
Reisen und ihr Leben in verschiedenen Ländern als Professorin für
Hauswirtschaft. Meine Oma war eine ganz besondere Frau: Sie hatte
studiert und konnte Englisch sprechen. Eine studierte Oma – davon gab
es damals nicht sehr viele in unserem Land. Sie sagte immer zu mir:
„Du wirst einmal sehr wichtig sein. Du wirst Botschafterin oder
Ministerin.“ Das hat mich ungemein motiviert.
Botschafterin oder Ministerin bin ich zwar nicht geworden. Und doch
hat meine Oma Recht behalten: Ich habe etwas Besonderes aus meinem
Leben gemacht. Und ich weiß, dass Oma daran ihren Anteil hat. Zwar ist
sie schon lange nicht mehr auf dieser Welt, aber ich werde immer an
sie denken und ihr dankbar sein. Schließlich trug sie sogar den
gleichen Namen wie ich – Hoda. Das ist arabisch und bedeutet
„göttliche Führung“. Und tatsächlich glaube ich, dass Gott mich in
meinem Leben immer geführt und mir in schwierigen Situationen geholfen
hat.
Wo meine Wurzeln liegen
Ich heiße Hoda El Gawish. Ich bin eine Muslima aus Ägypten. Doch ich
bin noch vieles mehr: studierte Politikwissenschaftlerin,
Geschäftsfrau mit zwei Unternehmen, liebende Ehefrau und Mutter zweier
wunderbarer Töchter. Und ich glaube an Feminismus. Ich hätte nie
gedacht, dass er mir eines Tages wichtig sein würde, aber das Leben
hat mich eines Besseren belehrt. Oft musste ich kämpfen und mich gegen
widrige Umstände durchsetzen. Doch dadurch habe ich gemerkt, wie viel
man erreichen kann, wenn man an sich selbst glaubt und bereit ist, für
seine Ideale einzustehen.
Geboren und aufgewachsen bin ich in der ägyptischen Hauptstadt Kairo.
Mein Vater arbeitete damals als Ingenieur für die Armee. Seine Familie
hat schon immer in Kairo gelebt. Meine Mutter dagegen stammt aus einem
kleinen Ort am Roten Meer und ist erst mit 18 nach Kairo gekommen, um
Medizin zu studieren. Als ich klein war, arbeitete sie auf eigenen
Wunsch in Teilzeit und hatte genug Zeit, mich vom Kindergarten
abzuholen und den Nachmittag mit mir zu verbringen. Dass sie als Frau
so einen angesehenen Beruf hat, war schon damals nichts Besonderes in
der ägyptischen Mittelschicht, in der ich aufgewachsen bin. In meiner
Familie war ich von vielen selbstbewussten und erfolgreichen Frauen
umgeben: Alle Töchter meines Urgroßvaters väterlicherseits hatten
studiert und konnten Englisch sprechen. Alle Schwestern meines Vaters
sind Ärztinnen, alle Schwestern meiner Mutter Bankerinnen. Und meine
eigene Schwester hat IT studiert und arbeitete lange Zeit für die
Firma Orange. Ich erzähle das, weil ich oft den Eindruck habe, dass
manche Leute muslimische Frauen generell als ungebildet und
unterdrückt betrachten. Dabei ist meine Erfahrung eher umgekehrt: In
Kairo ist es für eine Frau einfacher, Karriere zu machen als in
Deutschland. Anders allerdings auf dem Land: Dort geht es den Frauen
in Ägypten tatsächlich schlechter als in Deutschland.
Meine Familie lebte damals nicht weit vom Stadtzentrum entfernt. Unser
Viertel galt zu der Zeit als Reichenviertel und es gab dort viele
Villen. Auch der ehemalige Präsidentenpalast ist dort zu finden. Heute
dagegen ist es ein ganz normales Viertel, dicht besiedelt und voller
Hochhäuser. Damals hatte mein Vater das einzige Auto in der ganzen
Straße, heute findet man dort kaum noch einen freien Parkplatz.
Mit zwei Jahren kam ich in den Kindergarten, der nur 150 Meter von
unserer Wohnung entfernt liegt. Es war ein christlicher Kindergarten,
und unsere Erzieherinnen Mery und Neama waren Nonnen, die immer ihre
Tracht trugen. Ein muslimisches Mädchen in einem christlichen
Kindergarten – auch das war damals etwas ganz Normales. Viele
Erinnerungen an diese Zeit habe ich nicht mehr – ich weiß nur noch,
dass wir oft mit Wachsmalstiften malten und dass ich einmal Streit mit
einem Jungen hatte und er mich in die Wange biss. Aber im Nachhinein
denke ich, dass es doch etwas Besonderes war, dass ich einen
christlichen Kindergarten besucht habe. Ich bin dadurch schon sehr
früh mit einer anderen Religion in Kontakt gekommen. Das hat mich
geprägt und aus mir einen toleranteren Menschen gemacht.
Mit vier Jahren kam ich in die Vorschule. Und wieder fiel die Wahl
meiner Eltern auf eine christliche Einrichtung: das Ramses College for
Girls (RCG), eine evangelische Privatschule, die als eine der besten
Schulen der Stadt galt und an der ich später auch mein Abitur ablegen
sollte. Die Schule hatte eine große Tradition: Sie war 1908 gegründet
worden, wir hatten einen eigenen College Song und viele unserer Lehrer
kamen aus den USA. Wie waren 30 Schülerinnen in meiner Klasse. Fast
genau die Hälfte war muslimisch, die andere Hälfte christlich. Das ist
bemerkenswert, weil der Anteil der Christen an der ägyptischen
Bevölkerung nur bei 15 Prozent liegt.
Eine meiner Schulfreundinnen war katholisch. Auch das ist etwas
Besonderes in Ägypten: Die meisten Christen gehören dort der
koptischen Religionsgemeinschaft an. Meine Freundin feierte so schön
Weihnachten, und es war immer ganz aufregend für mich, Weihnachten und
Nikolaus bei ihr zu Hause zu erleben. Wenn ich mich mit ihr oder
anderen christlichen Mitschülerinnen über Religion unterhielt, ging es
immer nur um die prachtvollen Feste, niemals um intellektuelle
theologische Fragestellungen. Klar, wir waren ja auch noch Kinder.
Doch es ist auch wichtig zu wissen, dass Religion im Schulalltag kein
zentrales Thema war. Es gab nur zwei Ausnahmen: Zum einen besuchten
wir je nach Religionszugehörigkeit den christlichen oder islamischen
Religionsunterricht. Und zum anderen spielten die Feiertage wie
Weihnachten und das Fastenbrechfest eine wichtige Rolle: Beide Feste
wurden groß gefeiert, und ich durfte immer mithelfen, das
Klassenzimmer zu dekorieren.
Wir haben nie viel über unsere Religion nachgedacht, sondern sie
einfach praktiziert: Vor Weihnachten und Ostern fasteten die Christen,
im Ramadan waren wir Muslime an der Reihe. Das wussten wir alle und es
war für uns immer selbstverständlich, aufeinander Rücksicht zu nehmen.
Die Eltern, die ihre Kinder auf diese Schule schickten, waren in der
Regel weltoffene Menschen, die ihre Religion trotzdem lebten.
Prägende Jahre in Übersee
Mein Leben war damals sehr einfach: Ich war sehr gut in der Schule,
oft war ich sogar Klassenbeste. Meine Familie legte darauf großen
Wert. Besonders viel Spaß gemacht haben mir Englisch und Mathe, später
auch Chemie. In meiner Freizeit fühlte ich mich wohlbehütet im Kreis
meiner Familie und meiner Verwandten: Mein Onkel arbeitete im
Drei-Monats-Rhythmus auf einer Bohrinsel. Wenn er frei hatte, durfte
ich oft zu ihm nach Hause statt in den Kindergarten. Das hat Spaß
gemacht, denn er hat für mich gerne Pfannkuchen zubereitet.
In den Ferien besuchte ich oft meine Großeltern. Am meisten Spaß hatte
ich bei den Eltern von meinem Vater, weil dort auch meine Cousine mit
ihren Eltern lebte. Meine Großeltern mütterlicherseits waren ziemlich
religiös, und so gingen wir oft zusammen in die Moschee, wenn ich bei
ihnen zu Besuch war. Oft kam dann auch meine Cousine Maha mit und wir
beteten alle gemeinsam. Das war immer nett für mich – wie ein
Familienausflug. So vergingen die Jahre meiner Kindheit. Bis zur
fünften Klasse ereignete sich nichts Besonderes: Ich ging zur Schule,
besuchte meine Großeltern und nahm Schwimmunterricht, wofür sich meine
Eltern immer durch den dichten Stau von Kairo quälen mussten.
Dann begann das erste große Abenteuer in meinem Leben: Als ich elf
Jahre alt war, zog ich mit meinen Eltern nach Amerika. Mein Vater
hatte eine Stelle als Diplomat in Silver Spring im Bundesstaat
Maryland bekommen. Heute würde ich die zwei Jahre, die wir in Amerika
verbracht haben, als wichtigste Erfahrung meiner Kindheit und Jugend
bezeichnen. Ich lernte ein ganz anderes Bildungssystem kennen, das in
vielen Dingen besser war als in meiner Heimat: Den Lehrern war es
wichtig, dass wir den Stoff nicht nur auswendig lernten, sondern dass
wir ihn wirklich verstanden. Wir machten viele Experimente, während
der Unterricht in Ägypten nur aus Theorie bestanden hatte. Ich
erinnere mich zum Beispiel an einen Lehrer, der einen sehr langen Bart
trug. Als wir das Thema Kommunismus durchnahmen, rasierte er vor der
ganzen Klasse seinen Bart ab, um uns zu zeigen, dass es im Kommunismus
keine Unterschiede zwischen den Menschen geben sollte – auch was ihr
Äußeres anging. Das war eine prägende Erfahrung für mich.
Mit meinen Lehrern habe ich nur gute Erfahrungen gemacht, und auch mit
der englischen Sprache hatte ich keine Probleme. Doch mit meinen
Mitschülern war es nicht immer ganz einfach: Ich hatte zwar viele
Freunde, aber ich fürchtete mich auch manchmal vor anderen Schülern.
So gab es oft Schlägereien, und an der Schule ging es gewalttätiger zu
als beispielsweise in Deutschland. Auch im Schulbus fühlte ich mich
unsicher und hatte manchmal Angst, weil es so viel Streit gab. Zum
Glück ist mir nie etwas passiert.
Und zum Glück gab es Deborah. Sie war das Kind unserer Nachbarn und
wurde meine beste Freundin. Deborah war eine fromme Jüdin, und
vielleicht haben wir uns gerade deshalb so gut verstanden: Wir beide
waren eher konservativ und nicht so frei wie unsere amerikanischen
Altersgenossen erzogen worden. So war Deborah auch die Einzige, die
verstehen konnte, dass ich keinen Freund haben wollte. Als gläubige
Jüdin hielt sich Deborah genau an die jüdischen Speisevorschriften.
Und so sagte mein Vater immer, wenn ich sie besuchte: „Koscher ist wie
halal. Bei diesen Leuten darfst du alles essen.“ Wieder einmal hatte
ich also einen tiefen Einblick in eine andere Religion gewonnen.
Konflikte und neue Erfahrungen
Als wir nach Ägypten zurückkehrten, war dort alles beim Alten. Doch
ich hatte mich verändert: Die zwei Jahre in Amerika hatten mich
kritisch gegenüber dem Schulsystem in meiner Heimat gemacht. So fand
ich es unbefriedigend, den Stoff stur auswendig zu lernen und ich
hatte keine Lust mehr, immer die Klassenbeste zu sein.
Andere Dinge wurden mir wichtig: Als die Ferien kamen, wollte ich
unbedingt jobben. Wahrscheinlich hatte mich „The Baby-Sitters Club“
dazu inspiriert, eine Jugendbuchserie, die ich in Amerika gelesen
hatte. Meine Familie verstand mich nicht, und tatsächlich ist es in
Ägypten total unüblich, dass eine Schülerin nebenher arbeitet. Doch
ich setzte mich durch und machte ein Praktikum in einer
Immobilienfirma, in der meine Tante arbeitete. Später jobbte ich in
einem Businesszentrum, in dem ich Telefonate für ausländische Kunden
führte und Faxe für sie verschickte. Besonders abenteuerlich war der
Weg zu meiner Arbeitsstelle: Ich fuhr mit dem öffentlichen Bus, was
ich vorher nie getan hatte. Dazu muss man wissen, dass die Busse in
Ägypten oft total überfüllt sind und es weder genaue Abfahrtszeiten
noch feste Haltestellen gibt. Immer mehr wurden mir die Schattenseiten
meines Landes bewusst: Neben dem Schulsystem störten mich besonders
das allgemeine Chaos und die Umweltverschmutzung, nachdem ich das
Recycling-System in den USA kennengelernt hatte.
Die besten Jahre meines Lebens
Als ich in die Oberstufe ging, stand der nächste Konflikt mit meiner
Familie an: Ich wollte den Literaturzweig belegen, aber mein Vater und
alle seine Geschwister waren dagegen. Und so musste ich den
naturwissenschaftlichen Zweig belegen. Als nach dem Abitur die
Studienwahl anstand, gab es wieder Diskussionen: Ich weigerte mich,
Pharmakologie zu studieren, wie es meine Familie wollte. Das Problem
war: Ich wusste gar nicht, was ich wollte. Ich wusste nur, was ich nicht
wollte.
Als ich mich schließlich für Politikwissenschaft entschied, schrie
mich mein Vater an: „Wenn du Ärztin wirst, werden dich die Leute mit
,Frau Doktor‘ anreden. Wenn du Ingenieurin wirst, wirst du für sie
,Frau Ingenieurin‘ sein. Aber bei allem anderen wirst du immer nur
,Hoda‘ sein, mit Glück höchstens noch ,Frau Hoda‘.“ Ich machte damals
einen großen inneren Konflikt durch. Ich hatte Angst und habe viel
geweint, denn einerseits wollte ich ein gutes Kind sein, aber
andererseits ging es ja um meine berufliche Zukunft und da wollte ich
keinen Fehler machen.
Schließlich lenkten meine Eltern doch noch ein. Sie akzeptierten meine
Studienwahl, allerdings unter einer Bedingung: Ich musste ihnen
versprechen, später Diplomatin zu werden oder mich auf
Wirtschaftswissenschaften zu spezialisieren, damit ich einen Job bei
einer Bank, einer Firma oder Ähnliches bekommen könnte.
Diesmal hatte ich goldrichtig gelegen, denn mein Studium sollte sich
als Volltreffer erweisen. Es waren die besten vier Jahre meines
Lebens, in denen ich auch meine zwei besten Freundinnen kennengelernt
habe. Die Professoren waren so tolerant und offen – alle Meinungen
wurden respektiert. Auch war die Qualität des Unterrichts sehr hoch –
ähnlich hoch wie in Deutschland, wie ich später selbst erleben sollte.
Neben der Uni arbeitete ich ehrenamtlich: Ich fuhr in die ärmsten
Viertel der Stadt, die eine Tochter aus gutem Haus sonst nie betritt,
unterrichtete die Zweitklässler dort über Umweltschutz und
organisierte Wettbewerbe zu dem Thema. Außerdem bekam ich die Chance,
an verschiedenen Simulationsspielen der UNO und der Arabischen Liga
teilzunehmen oder sie später sogar zu leiten. Dabei lernte ich
allerdings vor allem eines: Ich wollte nicht in der Politik arbeiten.
Denn wenn ich mein Land repräsentieren würde, müsste ich auch
vertreten, was nicht zu meinen Werten passt. Ich wollte also keine
Diplomatin werden.
Doch um meine Zukunft musste ich mir vorerst keine Sorgen machen: Ich
schloss mein Studium mit einer sehr guten Note ab – meine
Bachelorarbeit wurde sogar mit 1,0 bewertet – und bekam gleich eine
Stelle im Büro für Kommunikation mit Europa angeboten. Nebenher
arbeitete ich noch bei einem französischen Forschungsinstitut. Ich
hatte damals große Pläne: Ich wollte zurück nach Amerika gehen, dort
meinen Master machen und promovieren.
Ein Sommerkurs, den die Georgetown University in Griechenland anbot,
sollte dazu die ideale Vorbereitung sein. Drei Wochen verbrachte ich
mit 60 Studenten aus dem Nahen Osten, Europa, den USA und Israel auf
der Insel Kreta. Tagsüber hatten wir Kurse, und abends wurde gefeiert.
Und dann verliebte ich mich.
Wie ich meine große Liebe fand
Haitham stammte aus Alexandria. Er war Ingenieur und damit nur einer
von zwei Nicht-Sozialwissenschaftlern im Kurs. Wir haben uns von
Anfang an sehr gut verstanden, denn unsere Werte und Vorstellungen
waren einander so ähnlich. Haitham wollte in Deutschland promovieren.
Ich sagte ihm, er solle danach zurückkehren, damit wir gemeinsam unser
Land voranbringen würden.
Nach dem Kurs verbrachten wir noch fünf Tage als Touristen in Athen.
Doch als wir dann nach Ägypten zurückfliegen wollten, merkten Haitham
und ich plötzlich, dass wir nicht den gleichen Flug gebucht hatten.
Ich war so traurig, denn in dem Moment wurde mir klar, dass sich
unsere Wege für immer trennen würden. „Ich rufe dich an“, versprach er
zum Abschied. Aber ich wusste, dass ich ihn niemals wiedersehen würde.
Zwei Tage später klingelte das Telefon. Ich fiel aus allen Wolken – es
war Haitham! „Willst du die Bilder von Griechenland sehen?“, fragte er
mich. „Ich zeige sie dir.“ Und tatsächlich besuchte er mich in Kairo
und brachte die Fotos von unserem Sommerkurs mit. Ein paar Tage später
rief er mich wieder an und fragte, ob er nach Kairo kommen und mich
treffen dürfe. Ich erinnere mich noch genau: Es war der 15. August
2002 – der Tag vor meinem 21. Geburtstag. Wir trafen uns in einem Café
und er gab mir ein kleines Geburtstagsgeschenk. Plötzlich fragte er
mich: „Möchtest du mit mir nach Deutschland kommen?“ Mir war klar, was
diese Frage bedeutete: Er hatte mir gerade einen schüchternen
Heiratsantrag gemacht. Ich sagte nicht gleich „ja“ – meine erste
Reaktion war: „Aber ich kann kein Deutsch sprechen.“ Schließlich
kannten wir uns ja erst seit fünf Wochen. Aber mir war klar, dass ich
ihn unbedingt heiraten wollte und seinen Antrag gar nicht ablehnen
konnte. Und so sagte ich „ja“.
Jetzt musste ich nur noch meine Eltern überzeugen. Beim Frühstück am
nächsten Morgen machte ich ihnen vorsichtig klar, dass ich heiraten
wollte. Mein Vater war aber zunächst sauer, dass ich so wenig über den
Mann wusste, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte. Wir
beschlossen, dass sich unsere Familien erst gegenseitig kennenlernen
sollten. Wir trafen uns alle gemeinsam in einem Kairoer Club, einem
großen Areal mit zahlreichen Sportmöglichkeiten, Cafés und
Spielplätzen. Das Treffen verlief gut, und meine Familie mochte
Haitham gleich. Nur eine Sache gefiel meinem Vater an ihm nicht:
„Alexandria ist so eine kleine Stadt. Du kannst nur in Kairo Karriere
machen, wenn du als Politologin arbeiten möchtest“, sagte er.
Da kam ein glücklicher Zufall dazwischen: Im Club-Café saß ein Mann,
der mit meinem Vater zusammen studiert hatte, zu der Zeit mit Haithams
Vater zusammenarbeitete und dessen Tochter auf meiner Schule gewesen
war. Er legte bei meinen Eltern ein gutes Wort für Haithams Familie
ein, und so war mein Vater am Ende einverstanden, dass wir uns
verlobten.
Ich war damals noch sehr jung, gerade 21 Jahre alt. Meine Familie
hatte immer erwartet, dass ich einmal eine große Karriere machen
würde, aber dass die Familiengründung bei mir nicht so bald vorgesehen
war. Und jetzt wollte ich einen Mann heiraten, den ich erst seit fünf
Wochen kannte. Doch ich war mir sicher, dass ich das Richtige tat.
Im Oktober des Jahres ging Haitham nach Deutschland, um an der TU
München zu promovieren. Ich blieb alleine zurück. Bis Dezember
arbeitete ich an einem französischen Forschungsinstitut und ab Januar
als Entscheiderin beim UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten
Nationen. Es war ein sehr anspruchsvoller Job, aber gerade deshalb
fühlte ich mich dort sehr wohl. Jeden Tag habe ich drei Asylbewerber
in verschiedenen Sprachen interviewt – zum Teil mit Dolmetscher. Das
war sehr belastend, weil die Flüchtlinge oft sehr schlimme Geschichten
erzählten. Jeden Abend habe ich geweint, denn ich konnte oft nicht
glauben, dass es so viel „Böses“ auf der Welt gibt. Doch irgendwann
sagte mein Vater zu mir: „Du machst dich kaputt. So kannst du nicht
weitermachen.“ Ab da lernte ich zu trennen zwischen meinem Job und
meinen Gefühlen.
Nur sieben Monate blieb ich beim UNHCR, denn ich wollte heiraten und
zu Haitham nach Deutschland ziehen. Meine Chefin und meine Kollegen
wollten nicht, dass ich gehe, und ich wollte es eigentlich auch nicht.
Ich habe ein großes Opfer gebracht, um mit meinem Mann zusammenleben
zu können. Im August heirateten wir.
Für mich begann damit ein neuer Lebensabschnitt. Ich folgte meinem
Mann nach Deutschland. Von 2003 bis 2007 lebten wir in Garching bei
München. Zweimal in der Woche ging ich abends für drei Stunden zum
Deutschkurs. Den Rest der Zeit war ich zu Hause. Bald frustrierte mich
mein neues Leben: Mein Mann arbeitete den ganzen Tag lang und ich war
alleine. Der Deutschkurs ging mir viel zu langsam voran und arbeiten
durfte ich nicht, weil das Visum meines Mannes das nicht erlaubte.
Das einzig Positive in dieser Zeit: Ich erfuhr durch einen Aushang von
einer „Amnesty International English Speaking Group“. Zum nächsten
Treffen ging ich hin. Gemeinsam organisierten wir dort Petitionen,
schrieben Artikel gegen die Todesstrafe und für die Einhaltung der
Menschenrechte und verkauften Bücher oder Tee, um unsere Projekte zu
finanzieren. Bald fand ich dort neue Freunde: Marc aus England und
Sandra, die halb italienisch und halb deutsch war. Nach den Treffen
gingen wir oft zusammen etwas trinken. Mittlerweile ist Sandra meine
älteste Freundin in Deutschland und durch Amnesty ist eine jahrelange
Freundschaft entstanden.
Trotzdem war diese Zeit sehr schwierig für mich: Ich war es einfach
nicht gewohnt, den ganzen Tag zu Hause zu bleiben. Es war langweilig
und gleichzeitig stressig für mich. Außerdem konnte ich kaum Deutsch
sprechen und brauchte sogar zum Einkaufen ein Wörterbuch.
Oft habe ich in dieser Zeit an Ägypten gedacht: wie ich mit meiner Oma
auf dem Balkon gesessen hatte und sie mir Geschichten erzählte oder
wie ich während meiner Studienzeit mit meinen zwei besten Freundinnen
am Nil entlanglief und wir zusammen Lieder sangen. Doch das war jetzt
alles so weit weg und unerreichbar für mich. Mein Leben hatte eine
andere Wendung genommen und es schien mich in eine Sackgasse geführt
zu haben.
Mitten in meinen Grübeleien bekam ich eine traurige Nachricht: Meine
geliebte Oma war sehr krank. Kurze Zeit später starb sie. Ich erinnere
mich noch genau an den Tag, denn zufällig fand am gleichen Abend die
Weihnachtsfeier von „Amnesty International“ statt. Obwohl ich wirklich
sehr traurig war, entschied ich mich, zu der Feier zu gehen. Ich
wusste, dass meine Oma es sich so gewünscht hätte. Sie war immer
voller Lebensfreude und hatte immer gewollt, dass es mir gut geht.
Neue Herausforderungen
Vielleicht war es ja diese traurige Erfahrung, die mich wachrüttelte.
Ich war doch erst 22 und es konnte unmöglich schon alles vorbei sein!
Ich war es Oma einfach schuldig, dass ich mein Leben wieder selbst in
die Hand nahm und mich in neue Herausforderungen stürzte.
Ich hatte mich entschieden, vorübergehend nach Ägypten zurückzukehren
und dort meine übrigen Kurse für das Masterstudium, das ich vor dem
Umzug nach Deutschland angefangen hatte, zu absolvieren. Und genauso
machte ich es dann auch: Im September war ich nach Deutschland
gekommen, im Februar des darauffolgenden Jahres ging ich nach Ägypten
zurück. Mein Mann war natürlich traurig, von mir getrennt zu sein,
aber er unterstützte mich, so gut er konnte. Ich schloss meine Kurse
rasch ab, und danach sollte sich alles zum Besseren wenden: Ich fand
eine Praktikumsstelle beim „Centrum für angewandte Politikforschung“
(CAP) in München. Im Juli kam ich wieder nach Deutschland. Mein Mann
hatte in der Zwischenzeit sein ganzes Geld angespart, damit ich meinen
Deutschkurs fortsetzen konnte.
Von da an ging ich jeden Vormittag fünf Stunden zum Deutschkurs und
arbeitete am Nachmittag. Mein Arbeitsplatz war in einer alten Villa
untergebracht. Mein Chef, Felix Neugart, war sehr nett und fragte mich
oft nach meiner Meinung über Nahost-Themen. Und dann gab es da noch
den Dozenten Giacomo Luciani aus Italien. Ich unterstützte ihn bei
seiner Arbeit. 180 Euro verdiente ich damals im Monat. Und obwohl
allein mein Sprachkurs 600 Euro kostete, war ich sehr zufrieden, weil
die Arbeit mir Spaß machte.
Im Deutschkurs lernte ich Heba, eine andere Ägypterin, kennen. Wir
verstanden uns gut und wurden Freunde, denn wir stammten aus
vergleichbaren Verhältnissen und hatten ähnliche Werte. Sie war
Christin, und so feierten wir zusammen das muslimische Fastenbrechfest
sowie Weihnachten und Ostern. Das war so wichtig für mich. Wir kochten
dabei auch unsere Lieblingsgerichte. Mittags besuche ich Heba oft und
durfte bei ihr beten. In ihrem Haus las ich auch zum ersten Mal in der
Bibel.
In der Zwischenzeit machte ich große Fortschritte mit der deutschen
Sprache und bestand schließlich die Prüfung, die Voraussetzung war, um
studieren zu dürfen. Und dann begann ich ein Magisterstudium in
Internationalen Beziehungen an der Uni München. Jetzt hatte ich
endlich ein schönes Leben: Ich war zurück an der Uni, hatte viele
Freunde aus verschiedenen Ländern – darunter auch viele Deutsche – und
ich arbeitete weiterhin am CAP als studentische Hilfskraft, was mir
viel Spaß machte.
Gute und schlechte Erfahrungen
Inzwischen war ich mit allen Uni-Kursen fertig, nur die Magisterarbeit
fehlte noch. Auch Haithams Promotion war weit fortgeschritten, und so
dachten wir ans Kinderkriegen. 2007 kam meine erste Tochter, Hana, zur
Welt. Doch als Hana einige Monate alt war und ich mich wieder auf
meine Magisterarbeit konzentrieren wollte, gab es Schwierigkeiten:
Obwohl wir bei elf verschiedenen Kitas anfragten, bekamen wir keinen
Krippenplatz. Schließlich fand ich eine Tagesmutter, die 15 Stunden in
der Woche auf meine Tochter aufpassen konnte. Es kostete mich viele
Tränen, mein kleines Baby abzugeben. Aber es ist alles gut gegangen.
Einmal kam auch meine Mutter aus Ägypten zu Besuch und passte auf Hana
auf.
Mein Mann aber fand in München keinen passenden Job. Schließlich
bewarb er sich bei „Procter & Gamble“ in Crailsheim, weil er bei
einem internationalen Unternehmen arbeiten wollte, das auch in Ägypten
bekannt ist, damit wir eines Tages zurückkehren könnten. Er bekam dort
eine Stelle und so zogen wir im Februar 2008 nach Crailsheim um.
Dort fanden wir sofort einen Krippenplatz. Weil wir noch kein Auto
hatten, fuhr ich Hana jeden Morgen in einem Fahrradanhänger zur Kita.
Ich lernte in der Zeit noch für meine Abschlussprüfungen und pendelte
oft zwischen Crailsheim und München. Im September 2008 hatte ich den
Studienabschluss in der Tasche und bewarb mich um einen Job. Aber da
begannen die Schwierigkeiten, denn ich bekam immer wieder einen Satz
zu hören: „Sie sind überqualifiziert.“ So etwas hatte ich noch nie
zuvor gehört.
Eines Tages rief mich meine Freundin Sandra aus München an. Sie gab
mir den Tipp, mich in Stuttgart zu bewerben. Gesagt – getan: Nach
einem erfolgreichen Jobinterview hatte ich dort ab Januar 2009 eine
neue Stelle. Was mir als Erstes auffiel, war der schwierig zu
verstehende Dialekt meines Chefs. Er kam nämlich aus Wien. Doch die
Arbeit war sehr interessant: Wir digitalisierten alte arabische
Handschriften und stellten daraus echte Luxusprodukte her: Bücher mit
Kalligrafien aus Gold. Unter unseren Kunden waren Könige und
Botschafter, und die Bücher wurden von Adeligen wie Prinz Charles
signiert. Ich war dafür zuständig, Lizenzen für Übersetzungen ins
Arabische anzufragen, beschäftigte mich mit Marketing und hatte
Kontakt zu Kunden auf der ganzen Welt. Einmal organisierte ich eine
Messe in Abu Dhabi, ein anderes Mal durfte ich an einer Konferenz in
Marokko teilnehmen und besuchte dort einige Geschäftspartner und
Bibliotheken. Einmal sagte mein Chef zu mir: „In den 30 Jahren, die
ich hier arbeite, hatte ich nie so gute Kontakte zu Geschäftspartnern
wie jetzt, seitdem Sie hier sind.“ 20 Stunden in der Woche arbeitete
ich dort. Und nebenbei gründete ich eine Sprachschule, die bald wuchs,
sodass ich schon bald auf der Suche nach meiner ersten freiberuflichen
Mitarbeiterin war.
Privat machte ich allerdings einige negative Erfahrungen: Von den
Ärzten fühlte ich mich oft schlecht behandelt: Sie schickten mich nach
Hause, wenn ich krank war, und sagten, dass sie im laufenden Quartal
keine neuen Patienten annehmen würden. Damals dachte ich, sie würden
so mit mir umgehen, weil ich eine Ausländerin bin. Heute weiß ich,
dass Deutschland ein generelles Problem mit der ärztlichen Versorgung
auf dem Land hat. So war es auch stressig für uns, wenn Hana abends
oder am Wochenende krank wurde und wir zum ärztlichen Notdienst nach
Schwäbisch Hall zu fahren mussten, denn wir hatten damals noch kein
Auto. Oft dachte ich an meinen Vater, der nie in die kleine
Heimatstadt meiner Mutter ziehen wollte. Alles in allem fand ich es
sehr umständlich, im ländlichen Hohenlohe zu leben, ohne mich dort
auszukennen.
Hinzu kam noch, dass viele deutsche Frauen ganz ungläubig reagierten,
als sie sahen, dass ich Hana in der Kinderkrippe zurückließ. Ich hatte
immer das Gefühl, dass die Leute mich kritisieren, weil ich so viel
arbeite. Dabei war das ganz normal für mich. In weiteren Situationen
fühlte ich mich als Frau nicht für ganz voll genommen: Mir fiel auf,
dass auf Veranstaltungen immer mein Mann gefragt wurde, was er
arbeite, aber niemals ich selbst. Ich wurde nur gefragt, wie viele
Kinder ich habe und wie es ihnen geht. Auch das war für mich ganz neu.
Bald wartete eine neue große Herausforderung auf mich: Mona kam auf
die Welt. Aber vorher besuchte ich Mekka.
Im Herzen des Islam
Ich hatte eine feste Anstellung in Stuttgart mit einem tollen Chef,
netten Kollegen und einem angenehmen Arbeitsklima. Ich hatte Erfolg
mit meiner Sprachschule und bekam es gut hin, gleichzeitig ein Kind
groß zu ziehen. Ich war so glücklich, wie ich es ein paar Jahre zuvor
niemals erwartet hätte. Das musste alles von Gott kommen. Ich spürte,
dass die Zeit für mich reif war, die fünfte und letzte der zentralen
Säulen meines Glaubens zu erfüllen: die Wallfahrt nach Mekka. Unsere
Tochter ließ ich bei meinen Eltern in Ägypten zurück und reiste mit
meinem Mann in die heiligste Stadt des Islam. 18 Tage lang waren wir
mit einer Reisegruppe unterwegs, die eine islamische Gemeinde in
München zusammengestellt hatte. Ich war damals erst 29 und ich kenne
niemanden, der sich in so jungen Jahren auf die Pilgerfahrt begeben
hat. Aber wie so oft in meinem Leben spürte ich, was das Richtige für
mich war, und tat es einfach. Ich habe es niemals bereut, denn die 18
Tage, die ich in Saudi-Arabien verbrachte, gehören zu den
großartigsten Erfahrungen meines Lebens. Ich war überwältigt von den
vielen Menschen, die aus aller Herren Länder angereist waren. Wir
sprachen alle verschiedene Sprachen und verstanden uns doch
gegenseitig. Denn es gab ein unsichtbares Band, das uns alle vereinte:
unser tiefer Glaube.
Erste Station der Reise war Medina, die Stadt, in die sich unser
Prophet Mohammed einst vor der Verfolgung durch seine Feinde
zurückgezogen hatte. Die Menschen, die damals in Medina lebten, waren
christlichen Glaubens. Sie haben ihn empfangen und sehr gut behandelt,
und so herrschte zumindest damals ein gutes Miteinander zwischen
Christen und Muslimen in Medina. Wir besichtigten dort die Große
Moschee, bevor es nach Mekka weiterging.
In Mekka umrundeten wir die Kaaba, das zentrale Heiligtum des Islam,
sieben Mal, wie es vorgeschrieben ist. Danach beteten wir alle
gemeinsam. Es war so ein wunderbares und befreiendes Gefühl! Auch wenn
jemand vorher niemals an Gott geglaubt hätte, würde er beim Anblick
all der betenden Menschen an diesem heiligen Ort sofort anfangen zu
glauben.
Doch der wichtigste Teil der Reise war der Tag, den wir in einem Zelt
am Berg Arafat verbrachten, an dem Mohammed kurz vor seinem Tod eine
berühmte Rede gehalten hatte. Unser Reiseleiter warnte uns davor, das
Zelt zu verlassen, denn es gab so viele andere Zelte, dass wir den Weg
zurück nicht finden würden. Wir gingen trotzdem hinaus, um den genauen
Ort zu finden, an dem sich unser Prophet aufgehalten haben soll. Doch
auf dem Rückweg verliefen wir uns. Die Sonne brannte vom Himmel und
ich hatte Durst, doch wir hatten nichts zu trinken dabei. Ich
fürchtete, ich könnte sterben und dachte, dass man sich am Tag des
Jüngsten Gerichts so fühlen müsste. Doch am Ende fanden wir mit Gottes
Hilfe den Weg zurück.
Sehr bewegend war auch die symbolische Steinigung des Satans zum Ende
der Tage am Arafat. Die Nacht davor hatten wir unter freiem Himmel in
der Ebene Al Muzdalifa bei Mekka verbracht, wo wir sieben Kieselsteine
sammelten und in Plastikflaschen füllten. Am Morgen liefen wir dann
zusammen mit Hundertausenden weiteren Pilgern einen langen Weg
entlang, bis wir zu einer niedrigen Mauer gelangten, über die wir die
Steine gegen die Pfeiler der Jamarat-Brücke warfen. Das war ein
überwältigendes Erlebnis.
Meine Kopftuch-Episode
Glücklich kehrte ich nach Crailsheim zurück. Ich wollte nun alles
richtig machen und die Gebote meiner Religion noch genauer befolgen,
als ich es vorher schon getan hatte. Und so entschloss ich mich, ein
Kopftuch zu tragen. In meiner Familie wurde es unterschiedlich
gehandhabt, ob eine Frau ein Kopftuch trägt. Meine Mutter etwa hatte
erst mit 47 damit angefangen. Auch bei ihr war die Pilgerfahrt nach
Mekka der Auslöser gewesen. Meine Schwester dagegen trug schon mit 15
Jahren ein Kopftuch. Damals konnten wir es alle nicht nachvollziehen,
weil sie noch so jung war, aber es war ihre freie Entscheidung. Jetzt
verstand ich auch besser, was meine Schwester damals gefühlt haben
musste.
Doch mir stellten sich einige unerwartete Schwierigkeiten: Zunächst
einmal machte ich die Erfahrung, dass Frauen mit Kopftuch in
Deutschland oft als unterdrückt und ungebildet betrachtet werden. Was
noch hinzukam: Ich fühlte mich selbst auch gar nicht wohl in meiner
Haut. Ich erinnere mich, wie ich in dieser Zeit auf eine
Verlobungsfeier in Ägypten eingeladen war und dort viel weinte, weil
ich das Kopftuch noch als ungewohnt und fremdartig empfand.
Zurück in Deutschland, beschloss ich, das Kopftuch modischer zu
tragen, damit es nicht als islamisches Symbol erkannt wurde. Doch die
verwunderten Reaktionen der Leute ließen nicht nach. Auf der Straße
wurde ich oft komisch angeschaut. Ein böses Wort ist aber niemals
gefallen. Einmal traf ich mich mit einem guten Freund im Café. Als er
mich sah, war er so perplex, dass er überhaupt keinen Ton mehr
herausbrachte.
Manche Leute reagierten verständnisvoller: Mein Chef zum Beispiel
lachte nur, als er mich sah. Er war ein offener Mensch – er hatte oft
mit Saudis zusammengearbeitet, erarbeitete mit ihnen eine islamische
Enzyklopädie und kannte die islamische Kultur. Auch mit Kindern machte
ich gute Erfahrungen. Sie fragten mich: „Was ist das?“. Ich erklärte
es ihnen und damit war alles gut. Sie akzeptierten mich einfach so,
wie ich aussah.
Fast ein halbes Jahr trug ich das Kopftuch. Dann machte ich mit meiner
Familie Urlaub in Paris. Dort konnte ich endlich tief in mich
hineinhören und für mich selbst beschließen, ob ich das Kopftuch
weiterhin tragen wollte. Die Entscheidung fiel schnell: Bald merkte
ich, dass ich auf den Fotos, auf denen ich kein Kopftuch trug, viel
entspannter und glücklicher wirkte. Und so legte ich das Kopftuch
wieder ab. Doch am Anfang hatte ich Gewissensbisse, denn ich wollte es
Gott ja Recht machen. Ich glaube nach wie vor, dass eine muslimische
Frau ihre Haare bedecken sollte, weil sie die Schönheit der Frau
zeigen. Aber – auch das war mir klar geworden – ich schaffte es
einfach nicht.
Meine Familienmitglieder reagierten verständnisvoll. Sie sagten zu
mir: „Wenn es dir damit nicht gut geht, dann lass es sein.“ Und so
konnte ich besser akzeptieren, dass ich nun mal kein perfekter Mensch
bin. Heute glaube ich, dass Gott mir verzeihen wird, falls es eine
Sünde ist, denn ich bemühe mich ja ansonsten immer, alles richtig zu
machen.
Und so endete meine Kopftuch-Episode. Eine Erzieherin in Hanas
Kindergarten fragte mich hinterher: „Was war das denn? Sie haben
schlimm ausgehen.“ Das fand ich nicht in Ordnung. Viele Leute haben
mir beinahe gratuliert, als ich das Kopftuch wieder abgelegt habe.
Dabei war das meine ganz persönliche Entscheidung und ich legte keinen
Wert auf die Meinung von meinen Bekannten, die meine Religion nicht
kennen.
Wie mich meine Töchter für Frauenrechte begeisterten
Im Januar 2013 wurde Mona, meine zweite Tochter, geboren. Die
Schwangerschaft war nicht ohne Komplikationen verlaufen, denn eine
Untersuchung hatte gezeigt, dass Monas Nackenfalte zu breit war. Wir
befürchteten, dass sie behindert sein könnte. Monatelang zog sich das
quälende Warten hin. Am Tag der Geburt sagte ich der Hebamme, sie
solle mir sofort Bescheid sagen, ob das Baby gesund und ob es ein
Mädchen oder Junge sei, denn beim Geschlecht wollte ich mich
überraschen lassen. Als Mona dann zur Welt kam, sagte die Hebamme
sofort: „Es ist ein Mädchen und es ist alles da.“ Ich weinte vor
lauter Glück. Das war der schönste Augenblick meines Lebens.
Ich wollte Mona etwas von dem Glück zurückgeben, das sie mir geschenkt
hatte. Für Hana hatte ich oft wenig Zeit gehabt, weil ich beruflich
hart zu kämpfen hatte. Für Mona nahm ich mir Elternzeit und tat nur
das Nötigste, um meine Sprachschule am Laufen zu halten.
Doch als ich nach einem Jahr wieder in meine Festanstellung
zurückkehren wollte, wartete eine böse Überraschung auf mich: Während
meiner Elternzeit war mein Chef krank geworden und hatte allen
Mitarbeitern gekündigt. Auch meine Stelle gab es nicht mehr, aber mein
Chef durfte mich während meiner Elternzeit nicht einfach so entlassen.
Doch ich bat um eine Kündigung, um Unterstützung von der
Arbeitsagentur bei der Suche nach einem neuen Job zu bekommen.
Außerdem hatte ich so Anspruch auf Arbeitslosengeld.
Mit der Kündigung ging ich zur Arbeitsagentur, denn ich suchte
dringend einen Job. Auf keinen Fall wollte ich nur als Selbstständige
mein Geld verdienen. Doch die Arbeitsagentur Mannheim entschied, dass
mir kein Arbeitslosengeld zustehe. Zum Glück wurde ich damals von den
„Wirtschaftsjunioren“ eingeladen und lernte dort eine Anwältin kennen,
der ich den Fall schildern konnte. Sie unterstützte mich in einem
Rechtsstreit, der ein Jahr dauerte und den ich schließlich gewann.
Dabei ging es mir gar nicht um das Arbeitslosengeld, sondern ums
Prinzip: Immer wieder wurde ich gefragt, warum ich denn unbedingt
arbeiten wollte, weil ich doch eine eigene Sprachschule und Kinder zu
versorgen hätte. Doch ich fand in den Englischkursen einfach nicht
meine persönliche Erfüllung.
Diese Erfahrung zeigte mir vor allem eines: Anders als ich vorher
gedacht hatte, ist auch Deutschland nur ein ganz normales Land. Die
Behörden behandelten mich unfair und waren nicht wirklich daran
interessiert, mir zu helfen, und die Arbeitsagentur unterstellte mir
in ihren Briefen unterschwellig, dass ich lüge. Dabei hatte ich mich
von Anfang an aktiv um neue Stellen beworben.
Arbeitslosengeld bekam ich jetzt also, aber eigentlich war es mir ja
viel wichtiger, so schnell wie möglich wieder einen Job zu finden. Das
sollte sich allerdings als schwierig erweisen. Meine Betreuerin bei
der Arbeitsagentur machte mir gleich klar, dass es für mich als
Akademikerin nicht einfach sein würde, in Crailsheim eine Stelle zu
bekommen. Sie gab mir den Tipp, meinen Magisterabschluss in den
Bewerbungen nicht zu erwähnen und zu schreiben, dass es mir nichts
ausmache, einfache und anspruchslose Arbeiten zu verrichten.
Doch es sollte mir einfach nicht gelingen, einen Job zu finden. Zu
fast jedem Treffen mit meiner Betreuerin kam ich weinend. Ich bin ein
sehr emotionaler Mensch und es war so schwierig für mich zu
akzeptieren, dass meine Karriere ins Stocken geraten war, ohne dass
ich etwas dafür konnte. Meine Betreuerin wollte mir wirklich helfen,
war aber dazu nicht in der Lage. Doch was war eigentlich das Problem?
Über 80 Bewerbungen habe ich geschrieben. Ich wurde oft zum Interview
eingeladen und fühlte mich durchaus ernstgenommen. Mein exotischer
Name, meine dunklen Haare, mein arabischer Akzent – all das war nie
ein Problem. Aber sobald wir darauf zu sprechen kamen, dass ich
bereits zwei Kinder hatte, war das Gespräch schnell beendet.
Ich erinnere mich zum Beispiel an ein Jobinterview in Berlin, in dem
ich doch allen Ernstes gefragt wurde, was mein Mann beruflich mache,
ob ich als Mutter für Abendveranstaltungen zur Verfügung stehen würde
und wer dann auf meine Kinder aufpassen könnte. Und bei jedem
Vorstellungsgespräch – auch hier in der Region – wurden mir die
gleichen Fragen gestellt: „Wie alt sind Ihre Kinder? Sind Ihre Kinder
öfter krank? Wohnt Ihre Mutter bei Ihnen im Haus? Wird Ihr Mann
beruflich umziehen?“ Immer musste ich beweisen, dass ich als Frau und
Mutter leistungsfähig bin. Ich wurde diskriminiert, weil ich eine Frau
bin, nicht etwa wegen meines Migrationshintergrunds. Seitdem sehe ich
Frauenrechte mit anderen Augen.
Mit 17 hatte ich die wichtigsten politischen Theorien kennengelernt
vor. Unter ihnen hatte ich den Feminismus als überflüssig empfunden.
Heute dagegen glaube ich, dass Frauen Unterstützung brauchen, und es
hat eine gewisse Ironie, dass ich erst in einem westlichen Land leben
musste, um das herauszufinden. In Ägypten wird man in
Vorstellungsgesprächen nämlich nie nach seinen Kindern gefragt, in
Deutschland dagegen müssen sich Frauen in Jobinterviews Sätze anhören
wie: „Ich gehe davon aus, dass Ihre Kinderplanung abgeschlossen ist.“
Deutsche Behörden oder: Chaos an der Tagesordnung
Ich war verzweifelt. Doch ich gab nicht auf. Wenn ich bei Unternehmen
keinen Job finden konnte, vielleicht würde es bei Behörden klappen? Es
war die Zeit, in der immer mehr Flüchtlinge nach Deutschland kamen,
und wer weiß – vielleicht legten die Behörden ja Wert auf eine
arabische Muttersprachlerin, die in der Kultur des Nahen Ostens
verwurzelt ist und sich auch mit der Politik in der Region auskennt?
Doch wieder wurde ich enttäuscht: Zwar wurde ich zum
Vorstellungsgespräch beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) nach Nürnberg eingeladen. Beworben hatte ich mich als
Entscheiderin an der Landeserstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in
Ellwangen – in der gleichen Funktion also, in der ich einst beim UNHCR
in Kairo so einzigartige Erfahrungen gesammelt hatte. Doch schnell war
ich ernüchtert: Im Gespräch fragte mich der Interviewer, ob ich die
gleiche Sprache spreche wie die syrischen Flüchtlinge. Er wusste
wirklich nicht, dass wir Araber alle die gleiche Sprache sprechen und
uns untereinander verständigen können, egal aus welchem Land wir
stammen. Immerhin wollte er nichts über meine Kinder wissen, sondern
ausnahmsweise mal über meine Magisterarbeit zum Thema „Islam in
Deutschland“. Letztlich scheiterte meine Bewerbung aber an der
Einstellungsvoraussetzung, dass man ein Jahr Arbeitserfahrung bei
einer deutschen Behörde mitbringen musste. Die hatte ich natürlich
nicht.
Immerhin bemühte sich der Interviewer, eine andere Lösung zu finden
und bot mir an, mich möglicherweise als Sachbearbeiterin einzustellen.
Wir verblieben so, dass ich eine Woche später wieder etwas hören
würde. Das war im März. Doch der erhoffte Anruf blieb aus und
wochenlang wartete ich vergeblich. Im Mai fragte ich noch einmal beim
BAMF nach, doch niemand erinnerte sich an mich. Im September
schließlich kam der lang erwartete Anruf und ich wurde gefragt, ob ich
lieber in Ellwangen oder in Schwäbisch Hall arbeiten wolle. „In
Ellwangen“, antwortete ich. Dann passierte wieder wochenlang nichts.
Im Dezember endlich lag ein Brief in meinem Briefkasten. Voller
Hoffnung öffnete ich ihn – es war eine Absage. Wahrscheinlich hatte
man mich nur als „Quotenfrau“ oder „Quotenmigrantin“ überhaupt
eingeladen. Und damit ich mir auch ja keine falschen Hoffnungen mehr
machte, bekam ich die Absage gleich zweimal zugeschickt.
Das alles zeigte mir, dass Deutschland nicht so perfekt ist, wie ich
früher einmal geglaubt hatte. Um die Zeit zu überbrücken, unterstützte
ich die Polizei als freiberufliche Dolmetscherin. Und lernte dabei ein
chaotisches System kennen. Das lag nicht an den Polizisten, denn –
anders als in Ägypten – gingen sie in allen Fällen sehr respektvoll
mit den Kriminellen um. Doch das System unterstützte sie einfach
nicht. Es ist schwierig für mich zu verstehen, wie ein Mensch ohne
Bleiberecht nicht aus Deutschland abgeschoben werden kann, auch wenn
er eine Straftat begangen hat. Und so war ich am Ende froh, keine
Stelle in diesem chaotischen System bekommen zu haben. Ich hätte
wahrscheinlich viele Dinge gesehen, die mich stören, und ich hätte
nichts daran ändern können. Doch gerade dadurch wurde ich zur
Patriotin – zur deutschen Patriotin – denn ich sehe, dass es in dem
Land, das längst meine zweite Heimat geworden ist, noch vieles zu
verbessern gibt. Und ich würde gerne meinen Beitrag leisten, um dieses
Land noch lebenswerter zu machen.
Ich möchte eines klarmachen: Ich finde es großartig, wenn politisch
verfolgte Menschen hier die Chance auf ein Leben in Sicherheit
bekommen. Doch es gibt unter den Flüchtlingen auch einige
Trittbrettfahrer, die diese Möglichkeit ausnutzen, obwohl sie in ihrer
Heimat nicht verfolgt werden. Manche von ihnen werden zu Kriminellen
oder sogar zu Terroristen. Und den deutschen Behörden gelingt es in
vielen Fällen nicht, die echten von den angeblichen Flüchtlingen zu
unterscheiden und zu verhindern, dass manche von den Trittbrettfahrern
Schaden anrichten. Daran ist meiner Meinung nach das allgemeine Chaos
Schuld, das in der Arbeit der Behörden oft vorherrscht.
Auf neuen Wegen
Es war für mich also unmöglich, eine feste Arbeitsstelle bei
Unternehmen oder Behörden zu bekommen. Meinen Freunden habe ich es zu
verdanken, dass ich schließlich einen Ausweg fand: Sie fragten mich,
ob ich nicht Lust hätte, mit ihnen gemeinsam ein weiteres Unternehmen
zu gründen. Mir gefiel der Gedanke, doch noch suchte ich eine
Geschäftsidee, mit der ich mich identifizieren konnte. Schließlich
hatte ich die zündende Idee: Ich gründete eine internationale
Beratungsfirma. So konnte ich meine Lebenserfahrung und meine im
Studium und bei meinen beruflichen Stationen erworbenen Kenntnisse am
besten anwenden, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten und dabei
anderen Menschen zu helfen. Und so begann das bisher letzte Kapitel
meines beruflichen Werdegangs. Zuerst war es nur eine Notlösung, doch
heute gehe ich meinen Weg mit Entschlossenheit und Leidenschaft.
Meine Sprachschule läuft derweil immer besser. Ich konnte mehrere
Fortbildungen besuchen und ein Büro anmieten. Jetzt ist es mein Ziel,
meine Beratungsfirma voranzubringen. Am meisten liegt mir heute das
Coaching am Herzen. Mein Ziel ist es, die Menschen zu unterstützen,
ihren Weg mit Hilfe des Coachings selbst zu finden. Nur ist es oft
frustrierend für mich, dass viele Leute denken, ich hätte in
Deutschland alle Chancen bekommen, die mir in Ägypten verwehrt
geblieben sind. In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt: In meiner
Familie haben alle Frauen, die eine gute Karriere anstreben, auch
Karriere gemacht und hier in Deutschland muss ich mich ständig
rechtfertigen. In Ägypten gibt es das „Rabenmutter-Konzept“ nicht, in
Deutschland muss ich kämpfen, um als stolze Mutter und Unternehmerin
gleichzeitig anerkannt zu werden. Dabei sind meine beiden Rollen für
mich zwei Seiten einer Medaille – erst beides zusammen macht Hoda aus.
Was mich persönlich oft sehr beschäftigt, ist die Frage nach meiner
Identität. Ich fühle mich nicht mehr ganz wohl, wenn ich in Ägypten
bin: Ich habe kein Verständnis mehr für Unpünktlichkeit und für Pläne,
an denen man nicht festhält. Ich bin aber auch keine Deutsche: Ich
trinke kein Bier, faste im Ramadan und muss mich oft dafür
rechtfertigen. Es gibt vieles, was mich an der ägyptischen
Gesellschaft stört: Sie ist zu einer Konsumgesellschaft geworden. Die
Leute produzieren nicht, sie verbrauchen nur. Das passt nicht zu mir.
Die typische Mittelklasse-Familie schickt ihre Kinder auf teure
internationale Schulen und legt großen Wert auf Markenkleidung.
Gleichzeitig gibt es einen hohen Anteil armer Menschen, die sich
solche Dinge niemals leisten können. Es stimmt etwas in dieser
Gesellschaft nicht. Doch gleichzeitig vermisse ich die ägyptische
Mentalität: das gesellige Beisammensein, die Kultur, die Musik. Es
gibt zwei Hodas in mir – eine Ägypterin mit Herz und Seele und eine
Deutsche, die viele Werte ihrer neuen Heimat übernommen hat:
langfristige Planung etwa. Wie man seine Steuererklärung korrekt
ausfüllt. Und wie man Müll richtig trennt.
Manchmal macht es mich traurig, dass ich mich weder in Ägypten noch in
Deutschland jemals hundertprozentig wohlfühlen werde, dass ich nicht
weiß, wo ich nach meiner Rente leben und wo ich eines Tages begraben
werden möchte. Dadurch dass ich nach Deutschland gekommen bin, habe
ich so viele wertvolle Erfahrungen gewonnen. Aber ich habe auch etwas
verloren, als ich mein Land verlassen habe: einen Teil meiner Wurzeln,
das Gefühl, an einem Ort zu Hause zu sein, ein Stück weit auch
Sicherheit und Geborgenheit.
Und dann denke ich wieder an Oma zurück. An ihre Worte, dass ich es
einmal zu etwas Besonderem bringen würde. Heute weiß ich, dass sie
Recht hatte. Mein Weg ist nicht immer geradeaus verlaufen, aber an den
wichtigen Kreuzungen bin ich meinem Herzen gefolgt und habe so die
richtigen Entscheidungen getroffen. Ich bin studierte
Politikwissenschaftlerin, Geschäftsfrau mit zwei Unternehmen, liebende
Ehefrau und Mutter zweier wunderbarer Töchter. Ich bin dankbar für
das, was ich erreicht habe. Und dabei bin ich immer noch jung und
stecke voller Energie und neuer Ideen. Gott allein weiß, wohin mich
mein Weg noch führen wird. Ich vertraue auf ihn und lasse mich von ihm
führen. Ich bin Hoda El Gawish. Und ich bin voller Lebenshunger.
Wo meine Heimat liegt? Das ist doch ganz klar: In der Metropole mit
der prachtvollen Skyline, mit dem großen internationalen Flughafen, in
einer der vielfältigsten Städte Deutschlands – in Frankfurt am Main,
da bin ich zu Hause (die Heilbronner mögen mir diesen
Lokalpatriotismus verzeihen). Oder stimmt das gar nicht und meine
Heimat ist dort, wo die tropische Sonne auf die Herzen der Menschen
scheint und ihnen ein Lächeln aufs Gesicht zaubert? Wo glitzernde
Shopping Malls wie Pilze aus dem Boden schießen und das Alltagsleben
der Menschen gleichzeitig von tiefer Spiritualität und uralten
Traditionen geprägt wird? Wo exotische Speisen, die meditativen Klänge
des traditionellen Gamelan-Orchesters und schier endlose grüne
Reisfelder die Sinne betören? Es ist schwierig, die Frage nach der
Heimat zu beantworten, wenn Vater und Mutter aus verschiedenen
Ländern, von verschiedenen Kontinenten, aus zwei völlig
unterschiedlichen Kulturen stammen. Wenn der Vater aus dem
Rhein-Main-Gebiet und die Mutter aus dem Bergland der indonesischen
Insel Sumatra stammt. Wenn sich die Tamarinde aus dem Gebirge und das
Salz aus dem Meer im Kochtopf treffen, wie es in einem indonesischen
Sprichwort heißt.
Und so ist mir heute, mit 40 Jahren, klar: Heimat ist für mich nicht
in erster Linie ein geographischer Begriff. Heimat ist dort, wo ich
mich frei entfalten kann und mich geborgen fühle. Wo ich von Menschen
umgeben bin, die genauso „ticken“ wie ich. Wo ich mich im
Großstadtdschungel verlieren, aber auch in die Stille der Natur
zurückziehen kann. Heimat kann an vielen Orten sein. Oder auch nicht.
Denn ich glaube, dass gerade dieser Widerspruch die besondere
Identität vieler Kinder zweier Welten ausmacht: Sie können sich gut an
neue Situationen anpassen und bewahren doch immer eine gewisse Distanz
zu manchen Mitmenschen. Sie kommen am anderen Ende der Welt mit Leuten
aus fremden Kulturen ins Gespräch und fühlen sich auf dem Volksfest im
Nachbarort fehl am Platz. Sie sind überall und nirgendwo zu Hause.
Mogli möchte Luke Skywalker sein
Das alles wusste ich natürlich noch nicht, als ich in den 80er-Jahren
eine ruhige Kindheit am Rand von Frankfurt verlebte. Damals spielte
das Herkunftsland meiner Mutter noch keine große Rolle für mich.
Schließlich deutet mein Name nicht auf meine außereuropäische Herkunft
her und Deutsch ist meine Muttersprache – meine einzige. Dass ich
schon in Kindergarten und Grundschule von Kindern mit spanischen,
türkischen oder indischen Wurzeln umgeben war, war für mich
Normalität. Und wenn mich jemand liebevoll „Mogli“ nannte oder sich
mein Klassenkamerad wünschte, dass ich seinen Geburtstagskuchen
spielte, weil ich ja so schön braun sei, störte mich das nicht – es
war ja nett gemeint. Na ja, ich wäre damals zwar lieber blond und
blauäugig wie Luke Skywalker gewesen, aber was soll’s.
Die Probleme begannen später: Als ich in die Pubertät kam, verstand
ich nicht, warum meine Klassenkameraden so aufmüpfig wurden und
begannen zu rauchen und sich zu betrinken. Ich verstand es nicht und
tat es ihnen doch gleich – oft gegen große innere Widerstände.
Zumindest mit dem Betrinken und Rauchen habe ich es zeitweise
versucht. Mit der Aufmüpfigkeit klappte es dagegen nicht so gut, ich
war wohl doch zu brav. Hatte nicht gerade meine Mutter mir immer
beigebracht, ich müsse um jeden Preis gute Noten in der Schule haben
und alles tun, was der Lehrer von mir verlangte? Und jetzt hatte ich
den Salat: Kein Mädchen schien sich für mich zu interessieren. Klar –
wer will schon einen langweiligen Streber als Freund haben?
Eine Reise und ihre Folgen
Vielleicht wäre meine Schulzeit eher unerfreulich verlaufen, wäre da
nicht 1997 dieser große Wendepunkt gekommen: In jenem Sommer reiste
ich mit meinen Eltern und meiner jüngeren Schwester Stefanie zum
ersten Mal als (fast) Erwachsener nach Indonesien. Und erlitt zunächst
einen furchtbaren Kulturschock: Warum suchten meine Verwandten denn so
viel Nähe zu mir? Warum musste ich all diese traditionellen Zeremonien
über mich ergehen lassen? Und warum wollte mein Opa, dass ich mich
nicht mehr mit den hübschen Mädchen aus der Nachbarschaft treffe, weil
das keine Christinnen seien? Das ging den doch gar nichts an! Ich
drohte meinen Eltern bereits nach drei Tagen, alleine nach Deutschland
zurückzufliegen. Und bin heute noch dankbar und glücklich, dass ich
meine Drohung nicht wahrgemacht habe. Denn so bekam ich Gelegenheit,
in eine faszinierende Kultur einzutauchen, in der ich trotz meiner
Andersartigkeit wie selbstverständlich in die Gemeinschaft aufgenommen
wurde. In der die Gedankenwelt der Menschen mit tiefer Religiosität,
Geisterglauben und magischen Vorstellungen so viel bunter ist als in
unserer eher nüchtern eingestellten Gesellschaft. In der die Menschen
niemals verlernen zu lachen und sich über die Kleinigkeiten des
Alltags zu freuen. Spätestens damals begann meine intensive Beziehung
mit meiner zweiten Heimat am anderen Ende der Welt und gleichzeitig
die Suche nach meiner Identität.
Warum ich vorhin die nicht-christlichen Mädchen aus der Nachbarschaft
erwähnt habe? Nun, meine Mutter gehört der Volksgruppe der Batak an
und stammt aus einer christlichen Enklave im ansonsten überwiegend
islamischen Indonesien. „Schuld“ waren die Deutschen: Ein
nordfriesischer Missionar namens Ludwig Ingwer Nommensen bekehrte im
19. Jahrhundert die Batak, die zuvor Naturgottheiten angebetet hatten,
zum protestantischen Glauben. Obwohl der alte Geisterglaube immer
wieder durchbricht, identifizieren sich die Batak heute stark mit dem
Protestantismus. Ludwig Ingwer Nommensen und Martin Luther haben im
Batakland den Status von Heiligen und sind die berühmtesten Deutschen.
Im restlichen Indonesien sind das der mehrfache Formel-1-Weltmeister
Maikel Sumaker, der ehemalige Fußballer Maikel Ballack und – leider
auch – Adolf Hitler. Dass Letzterer bei vielen Menschen so populär
ist, liegt aber meiner Meinung nach an der Unkenntnis über die
Nazi-Verbrechen und nicht an irgendwelchen Sympathien für
nationalsozialistisches Gedankengut.
Die Verehrung für Deutschland hat meine Verwandtschaft auch auf meinen
Vater übertragen. Denn wer aus dem Heimatland von Nommensen und Luther
stammt, muss ja zwangsläufig gut sein. Kein Wunder, dass wir einmal
einen Brief bekamen, der nicht an „Familie Lutz“, sondern an „Familie
Luther“ adressiert war. Kann es also wirklich Zufall sein, dass meine
Mutter sich in den 70er-Jahren ausgerechnet Deutschland ausgesucht
hat, um als Krankenschwester Geld zu verdienen, mit dem sie ihre
Familie unterstützen konnte? Ich meine: ja. Viele meiner Verwandten
meinen: nein. Der Weg meiner Mutter sei vorbestimmt gewesen.
Unter der tropischen Sonne von Bali
Aber zurück zu mir: Die Reise von 1997 war für mich die Initialzündung
für eine intensive Auseinandersetzung mit meiner zweiten Heimat. Es
waren die Jahre um die Jahrtausendwende, Indonesien feierte die ersten
demokratischen Wahlen nach dem Sturz des Diktators Suharto wie ein
Volksfest, und auch ich befand mich in Aufbruchsstimmung: Ich lernte
die indonesische Sprache – zuerst autodidaktisch, dann als Student der
Südostasienwissenschaften in Frankfurt. Und schon bald erfüllte sich
ein Traum, den ich seit langem geträumt hatte: Von 2003 bis 2004 bekam
ich die Gelegenheit, in Indonesien zu studieren. Niemals werde ich
dieses aufregendste Jahr meines Lebens vergessen: Unter der tropischen
Sonne Balis lebte ich das Leben eines indonesischen Studenten mit
allem, was dazugehört. Ich wohnte in einer sogenannten „Kost“, in der
jeder Bewohner ein eigenes Zimmer mit Bad hat und man ansonsten in
enger Gemeinschaft lebt. Zum Essen nutzten wir das üppige Angebot aus
vielen größeren und kleineren Lokalen und mobilen Essensständen in
unserem Stadtviertel. Abgesehen von meinem nicht ganz indonesischen
Aussehen und meiner noch nicht ganz perfekten Beherrschung der Sprache
outete mich nur ein Detail als Ausländer: Statt wie die meisten
anderen Studenten auf dem Motorrad war ich stets mit einem Fahrrad
unterwegs – ein Exot im Verkehrsgetümmel der balinesischen Hauptstadt
Denpasar.
Ich sog alles Neue und Exotische förmlich in mich auf: die
prachtvollen Zeremonien auf dem Campus an den balinesischen
Feiertagen, die einen selbstverständlichen Teil des Uni-Lebens
darstellten. Die traditionelle hinduistische Verbrennungszeremonie für
einen verstorbenen Dozenten, bei der – ganz anders als bei
Beerdigungen hierzulande – eine turbulente Feststimmung herrschte. Den
Trancetanz in einem Tempel am Vorabend des balinesischen
Neujahrsfestes und die fast unheimliche Stille am Tag danach, an dem
es den Menschen verboten ist, das Haus zu verlassen. Das üppige Mahl
am Fastenbrechfest, das Agung, mein muslimischer Mitbewohner, gekocht
hatte. Den Schrein mit Buddhafiguren im Haus meiner Freundin Henny,
vor dem ihre Familie betete und Räucherstäbchen anzündete. Die
Weihnachtsmesse in der Kathedrale bei tropischen Temperaturen. Aber
auch die Einladungen meiner koreanischen Mitstudenten Soo und Jun, das
leckere koreanische Essen, die Partien des traditionellen Brettspiels
Go-Stop und Juns feucht-fröhliche Abschiedsparty in einer Disco. Und
dazwischen Nächte am Meer, Ausflüge zu wunderschönen Tempeln und
teilweise fast unberührten Traumstränden. Ich freundete mich auch mit
anderen Gaststudenten an – etwa Andreea aus Rumänien, Sabine aus
Darmstadt oder Chikako und Ryoko aus Japan – mit manchen stehe ich
heute noch in Kontakt. Ich erfüllte mir einen Traum, indem ich eine CD
mit selbstkomponierten Liedern aufnahm. Und das Allerwichtigste: Ich
lernte Ani kennen und lieben – die Frau, mit der ich heute glücklich
verheiratet bin.
Warum ich in Jakarta nicht glücklich wurde
Doch nach meinem einjährigen Höhenflug fiel die Landung auf dem harten
Boden der Realität nicht leicht. Die Rückkehr in den grauen deutschen
Studienalltag verkraftete ich nicht gut. Ich fühlte mich oft ruhelos,
wie ein Getriebener. Drei Jahre sollte sich mein Studium noch
hinziehen, in denen ich Ani vermisste und ständig von der Rückkehr in
das Land träumte, das ich jetzt als meine Heimat betrachtete. Ich tat
das, was ich damals tun musste: Ich versuchte mein Studium so schnell
wie möglich zu beenden und plante meinen Berufseinstieg in Indonesien.
Wie glücklich war ich, als ich die Zusage für ein dreimonatiges
Praktikum bei der GTZ, der früheren Organisation für
Entwicklungszusammenarbeit, in der indonesischen Hauptstadt Jakarta
erhielt. Das war doch etwas, worauf sich aufbauen ließ.
Und so flog im Spätsommer 2007 ein frischgebackener Uni-Absolvent von
Frankfurt nach Jakarta, um dort sein neues Leben zu beginnen. Endlich
war ich am Ziel und jetzt würde alles gut werden. Oder doch nicht?
Bald zeigte sich, dass Studium und Arbeit zwei Paar Schuhe waren. Mein
Praktikum ging total schief, und um nicht schon nach wenigen Wochen
wieder nach Deutschland zurückkehren zu müssen, begann ich ein
weiteres Praktikum im Indonesien-Büro der Hanns-Seidel-Stiftung, bei
dem ich im Laufe der Monate immer mehr Verantwortung übernehmen
durfte. Die Arbeit war interessant und abwechslungsreich – ich
verfasste Berichte zur politischen Lage in Indonesien, betreute Gäste
aus Deutschland, übersetzte für sie und ging mit ihnen auf
Dienstreisen durch das Land. So begleitete ich zweimal Polizeibeamte
aus München ans neugegründete Trainingszentrum JCLEC in der
javanischen Stadt Semarang, wo sie Seminare für einheimische
Polizisten hielten. Doch eines machte mir im Arbeitsalltag zu
schaffen: Ich wurde nicht annähernd so herzlich aufgenommen wie zuvor
auf Sumatra und Bali. Manche meiner Kollegen sahen mich in erster
Linie als ausländischen Eindringling, der ungerechterweise ein viel
höheres Gehalt verdiente als sie selbst. Gleichzeitig ärgerte ich mich
über andere „Expats“, die ein noch viel höheres Gehalt bekamen, nach
Jahren im Land kaum Indonesisch sprachen, in ihrer Freizeit kaum
Kontakt zu Einheimischen pflegten und sich bei jeder Gelegenheit über
die Indonesier beschwerten. Parallelgesellschaften gibt es wohl
überall.
Natürlich durfte ich auch in Jakarta viele wunderbare Menschen
kennenlernen. Ich verfolgte das Fußball-EM-Halbfinale von 2008
zwischen Deutschland und der Türkei mit meinem Vermieter Imron und
einigen Nachbarn vor einem winzigen Fernseher unter freiem Himmel –
wegen der Zeitverschiebung bis in die frühen Morgenstunden hinein. Ich
philosophierte mit meinen neuen Freunden Fajar und Pipin unter dem
traumhaft klaren Sternenhimmel am Rande des Dschungels von Ujung Kulon
über Gott und die Welt. Erkletterte mit ihnen in einer fast
halsbrecherischen Aktion den abgelegenen Vulkan Gunung Pulosari im
Westen der Insel Java. Fand auf dem 2000 Meter hoch gelegenen
Dieng-Plateau eine fantastische Welt aus farbenfrohen Kraterseen und
uralten Tempelruinen. Und ließ es mir natürlich nicht nehmen, meine
alte Wirkungsstätte Bali wieder zu besuchen, wo es ein fröhliches
Wiedersehen mit einigen alten Freunden gab.
Trotzdem wurde ich in Jakarta nicht glücklich und bekam Heimweh, wie
ich es noch nicht gekannt hatte: In der übervölkerten und
unüberschaubaren Millionenmetropole sehnte ich mich nach kulturellem
Leben. Oder auch nur nach etwas Grün, denn öffentliche Parks sind in
indonesischen Städten eine Seltenheit. Die Freizeit verbringt man
lieber in Shopping Malls, die weit mehr als Einkaufszentren sind und
auch Restaurants, Internetcafés, Kinos, Spielhallen oder sogar eine
Eisbahn beherbergen. Auch andere, ganz alltägliche Dinge fehlten mir:
das gute deutsche Graubrot (Indonesier essen morgens, mittags und
abends Reis und kennen Brot nur in der labberigen Sandwich-Variante),
die gemütlichen Kneipenbesuche mit Freunden (Manche Kneipen haben in
Indonesien einen anrüchigen Charakter als heimliche Bordelle), der
Schnee im Winter (Fehlanzeige in einem tropischen Land), die
Möglichkeit, kleine Strecken mit dem Fahrrad zu bewältigen (Radfahren
gleicht in Jakartas chaotischem Verkehr einer Extremsportart).
Insel-Intermezzo
Nach gut einem Jahr gab ich auf und kehrte nach Frankfurt zurück. Ich
war glücklich, wieder bei meiner Familie zu sein und genoss die Ruhe,
Übersichtlichkeit und Beschaulichkeit des deutschen Winters. Doch eine
Perspektive, wie es weitergehen sollte, hatte ich nicht. Und so brach
ich nach dreieinhalb Monaten erneut auf. Diesmal auf die kleine, vor
Singapur gelegene Insel Batam, wo ich eine Stelle als Englischlehrer
an einer Sprachschule gefunden hatte.
Und wieder tauchte ich in eine ganz andere Welt ein: Batam bedeutet
vor allem Industrie und Gewerbe. Die vielen Gastarbeiter – Indonesier
aus anderen Landesteilen, eine recht große philippinische und eine
etwas kleinere amerikanische und europäische Community – lassen sich
vor allem in abgeschlossenen Wohnkomplexen nieder, die kleinen Städten
ähneln. Viel zu sehen gibt es auf der Insel nicht gerade, das
Spannendste ist die Nähe zum bunten, exotischen und hochmodernen
Stadtstaat Singapur, den ich an freien Tagen immer wieder gerne
besuchte. Aber ich war von vielen netten Leuten umgeben und konnte
endlich wieder mein liebstes Hobby ausüben: In meiner Freizeit spielte
ich als Keyboarder in der heute noch bestehenden Alternative-Rockband
Cabin Cobian mit. Von meinem Gehalt, das in Deutschland gerade zum
Überleben gereicht hätte, konnte ich mir meine erste eigene Wohnung
leisten – genaugenommen sogar ein ganzes kleines Haus. Und ich
erfüllte mir einen weiteren Lebenstraum: Zusammen mit Ani reiste ich
mit Fähre, Bus und Bahn über Singapur, die malaysischen Städte Kuala
Lumpur und Melaka sowie die Insel Penang bis in die thailändische
Hauptstadt Bangkok – damals für uns ein wahres Abenteuer.
Mein Weg in den Journalismus
Trotzdem wollte ich zurück nach Deutschland, als mein Arbeitsvertrag
nach einem Jahr auslief. Und ich ahnte, dass ich diesmal nicht so
schnell wiederkommen würde. Ani und ich heirateten und sie folgte mir
nach Deutschland. Und ich besann ich mich auf das, was ich neben
Reisen und Musizieren am besten kann: das Schreiben. Ich hatte das
Glück, eine Hospitanz bei der FAZ machen zu dürfen. Endlich hatte ich
einen Beruf gefunden, der zu mir zu passen schien, denn als Journalist
machte ich das, was ich zuvor in meiner Freizeit oft gemacht hatte:
spannende Dinge erleben und darüber hinterher Texte verfassen. Das
journalistische Schreiben zügelte auch meine Eitelkeit, denn ich bin
überzeugt, dass ein guter Journalist nicht selbstverliebt sein darf,
sondern immer das Thema und die Menschen, über die er schreibt, in den
Vordergrund rücken muss. Nach fast sechs Monaten als Hospitant und
freier Mitarbeiter bei der FAZ bewarb ich mich deutschlandweit um ein
Volontariat, eine Ausbildung zum Redakteur. Bei der Heilbronner Stimme
klappte es schließlich, und so kam ich im Oktober 2010 nach Heilbronn.
Vier Jahre blieb ich bei der Stimme – eine Zeit, in der ich viel
lernte und für die ich dankbar bin. Doch wieder beschlich mich
manchmal das Gefühl, nicht am richtigen Ort zu sein. Ich träumte von
Reportagen über ferne Länder und berichtete stattdessen über lokale
Aufreger wie den Ärger mit Falschparkern oder Müllsündern. Immerhin
hatte ich oft Gelegenheit, über kulturelle Themen und über andere
Menschen mit Migrationshintergrund zu schreiben – beides sind bis
heute meine Steckenpferde geblieben.
Wer ich heute bin und was mir wichtig ist
Und heute? Ich würde sagen, dass ich zufrieden bin – mit dem Ort, an
dem ich wohne, und mit inzwischen liebgewonnenen Menschen, die mich
umgeben. Ich lebe mit der Frau zusammen, mit der ich alt werden
möchte. Ich habe viele Freunde, Verwandte und Bekannte – in Frankfurt,
in Heilbronn und Umgebung, im fernen Indonesien und in anderen
Ländern. Ich habe ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern und zu meiner
Schwester, die genauso reiseverrückt ist wie ich und noch viel mehr
Freunde in aller Welt hat. Meine Identität und meine Heimat habe ich
zwar noch nicht definitiv gefunden, aber dafür einen Job: Seit knapp
vier Jahren bin ich als Redakteur für regionale Wirtschaft und
Sonderveröffentlichungen beim Hohenloher Tagblatt in Crailsheim tätig.
Damit bin ich wirklich zufrieden, bleibe aber gleichzeitig auch offen
für neue Chancen. Ich glaube nur manchmal, es hätte vieles einfacher
und weniger schmerzhaft sein können, wenn ich mich nicht oft zwischen
zwei Welten hin- und hergerissen gefühlt hätte. Wenn ich nicht von so
verschiedenartigen Wertvorstellungen geprägt wäre, die sich teilweise
widersprechen. Wenn ich nicht manchmal so sprunghaft gewesen wäre.
Wenn ich frühzeitig gespürt hätte, wohin ich gehöre und was ich vom
Leben wirklich erwarte.
Ich habe zu schätzen gelernt, dass jeder in Deutschland Rechte hat,
die er notfalls einklagen kann. Dass man sich nicht ständig nach
strengen Traditionen richten muss und dadurch mehr aus seinem Leben
machen kann. Zumindest wenn man im Vollbesitz seiner körperlichen und
seelischen Kräfte ist. Doch ich glaube immer noch, dass man, wenn man
erst mal alt und gebrechlich ist, besser in einem Land aufgehoben ist,
in dem der familiäre Zusammenhalt viel stärker ist als bei uns. Das
Gleiche gilt für Menschen, deren Leben aus der Bahn geraten ist und
die aus eigener Kraft den Anschluss nicht mehr finden.
An manchen Dingen merke ich, dass ich mich vom durchschnittlichen
Deutschen – soweit es ihn gibt – unterscheide: Verwandtschaftliche
Beziehungen, Traditionen und Religion in irgendeiner Form bedeuten mir
sehr viel, denn ich denke, dass sich alle Menschen nach einer
Gemeinschaft sehnen, in der sie ohne Wenn und Aber akzeptiert werden.
Dass es ihnen wichtig ist, auf einige Regeln zurückgreifen zu können,
die sich über die Jahrhunderte bewährt haben und die ihnen eine
Orientierung vorgeben – was aber nicht heißt, dass man sie nicht
hinterfragen darf. Und dass die Menschen auch einmal irrational sein
und an etwas glauben wollen, was so viel größer und bedeutender ist
als der oftmals triste Alltag.
Ich halte nichts davon, immer forsch aufzutreten, mich bei jeder
Gelegenheit zu beschweren und dabei keine Rücksicht auf die Gefühle
meiner Mitmenschen zu nehmen. Ich bin nicht der Meinung, dass man
jedes Problem lösen kann, indem man darüber diskutiert. Manche
Probleme sind unlösbar, und unüberbrückbare Widersprüche gehören zum
Leben dazu. Keiner versteht das so gut wie ein Kind zweier Welten.
Manchmal ist das Beste, was man tun kann, gar nichts zu tun und darauf
zu vertrauen, dass alles gut wird.
Ich sehe mich nicht als Weltverbesserer, aber es ist mir sehr wichtig,
dass es den Leuten in meiner Umgebung gut geht, dass ich für meine
Frau, meine Familie und meine Freunde da bin, wenn sie mich brauchen.
Und ich halte mich für einen eher pragmatischen Menschen, habe aber
einige Grundwerte, nach denen ich versuche zu leben – Respekt und
Loyalität gehören auf jeden Fall dazu. Ansonsten stehe ich Ideologien
eher kritisch gegenüber und finde, dass manche Leute ihr Denken zu
stark nach ihnen ausrichten. Denn menschliche Gefühle sind mir
wichtiger als Ideen und abstrakte Theorien, und was nützt die schönste
Ideologie, wenn sie an der Realität scheitert? Dann muss sie an die
Realität angepasst werden, und nicht umgekehrt.
Eines Tages schließt sich der Kreis
Heute denke ich, dass ich auf einem guten Weg bin. Ich mache wieder
Musik – im VHS-Ensemble und im Krone-Quartett von Matthias Schwarzer,
dem ehemaligen Leiter der Städtischen Musikschule Heilbronn, sowie bei
meinen regelmäßigen Frankfurt-Besuchen als Gitarrenduo mit meinem
Studienfreund Thomas und im Familienensemble mit meinen Eltern und
meiner Schwester. Und ich habe mit der „Erzählwerkstatt für Menschen
aus aller Welt“ eine ehrenamtliche Beschäftigung gefunden, in der mir
meine Verwurzelung in zwei so verschiedenen Kulturen zugutekommt.
Für meine persönliche Zukunft habe ich einige Wünsche: Ich hoffe, dass
ich das Beste aus zwei Kulturen vereinen kann – deutsche Tugenden wie
Sorgfalt, Organisationstalent, Durchsetzungsfähigkeit,
Durchhaltevermögen und Respekt vor der Natur mit typisch indonesischen
Stärken wie Charme, Humor, Improvisationstalent, Kreativität und
Respekt vor den Menschen. Und ich hoffe, dass ich nach den
Erkenntnissen leben werde, die ich aus der turbulenten Zeit zwischen
der Indonesienreise von 1997, bei der ich mich in meine zweite Heimat
in der Ferne verliebte, und den letzten Jahren, in denen ich mich
endlich in meiner ersten Heimat wirklich etablierte, mitnehme: mich
selbst nicht zu wichtig und das Leben nicht zu ernst zu nehmen – was
mir beides oft schwerfällt. Bei allem Verantwortungsbewusstsein und
trotz der großen Vorteile, die ein geregelter Alltag mit sich bringt,
nicht zu vergessen, wie wichtig es oft ist, einfach das zu tun, worauf
man gerade Lust hat und sich den ein oder anderen Traum zu erfüllen.
Und bei allem manchmal notwendigen Egoismus nicht zu vergessen, dass
man nur vollständig glücklich werden kann, indem man auch andere
Menschen glücklich macht.
Wenn Ani und ich einmal Kinder haben, hoffe ich, dass ich ihnen
vermitteln kann, dass ihre Verwurzelung in zwei so verschiedenartigen
Kulturen einen großen Reichtum darstellt und nicht eine schwere Bürde,
wie ich zeitweise fühlte und in schwachen Momenten immer noch glaube.
Dazu muss es mir aber gelingen, ihr Selbstwertgefühl zu stärken und
sie mit Menschen zusammenbringen, die sie aufblühen lassen und in
deren Gegenwart sie von ihren besonderen Eigenschaften profitieren.
Denn wer „anders“ ist, wird es immer ein Stück weit schwerer haben,
sich im Alltagsleben zurechtzufinden.
Ich kann mir vorstellen, die nächsten Jahre in Heilbronn zu bleiben.
Gleichzeitig möchte ich so viel wie möglich reisen, andere Länder und
Kulturen entdecken, mit möglichst verschiedenen Menschen auf einer
persönlichen Ebene ins Gespräch kommen und etwas über ihre Sichtweise
der Welt erfahren. Mein Traum wäre es, mit Ani und unseren künftigen
Kindern eines Tages wieder in Frankfurt zu leben, aber das nötige
Kleingeld zu haben, dass wir uns eine Ferienwohnung im Süden leisten
können. Vielleicht irgendwo am Mittelmeer. Vielleicht aber auch auf
Bali, wo ich das großartigste Jahr meines Lebens verbracht habe. Und
vielleicht werde ich irgendwann dort wieder mit meinen alten Freunden
nachts am Strand sitzen. Dann packe ich meine Gitarre aus, wir atmen
den Duft von Nelkenzigaretten ein, trinken ein Bier, lauschen dem
Rauschen der Wellen und erzählen uns Geschichten von früher. Und
vielleicht fragen sie mich dann: „Warum bist du jetzt erst nach Hause
gekommen?“
Sujata Ogale
Mit
anderen Augen - Integration aus der Sicht einer Inderin
Fünfundvierzig
Jahre meines Lebens habe ich mittlerweile in Deutschland verbracht,
das ist länger, als die Zeit in der ich in Indien gelebt habe. Es ist
genug Zeit, um Erfahrungen verschiedener Art zu sammeln. Eine davon
ist, dass auf der Suche nach Leistung und Erfolg sehr oft die
Menschlichkeit verloren geht. Ich habe versucht die Pointe meines
Buches durch Episoden meines Lebens hier in Deutschland auf diese
häufig vergessene Menschlichkeit zu setzen, die ich glücklicherweise
erfahren durfte. Die Erfahrungen mit Menschen formen den Kern dieses
Buches. Es sind Menschen, die ich wirklich getroffen habe und viele
von diesen sind heute meine enge Freunde geworden.
Das Buch stellt den kleinen Versuch dar, dem Image des „hässlichen
Deutschen“ zu widersprechen. Mein Dank gilt all jenen herrlichen
Menschen, die ich hier getroffen habe und ohne die dieses Buch nicht
zustande gekommen wäre.
1 Oma Eisel
Wenn ich Freunde zum Abendessen eingeladen habe, verbringe ich den
ganzen Tag damit, das Haus zu putzen, so dass es besonders gut
aussieht, indisches Essen zu kochen, die Getränke zu organisieren, den
Tisch zu decken, etc. ... Alles muss perfekt sein – eindeutig
deutscher Einfluss. Es ist Stress pur und Selbstgemachte. Es war einer
dieser so beschriebenen Tage, als es klingelte und Oma Eisel vor der
Tür stand. „Kommst du rüber auf einen Kaffee?“ Oma Eisel war unsere
Nachbarin. Eine alte Frau mit einem Herzen aus Gold. „Oma, es tut mir
leid, aber heute kann ich nicht. Ich bekomme heute Abend Besuch“,
sagte ich. „Ach, komm schon...“, bettelte sie, „... eine Tasse Kaffee
kannst du doch mit mir trinken. Er ist schon fertig, und ich habe auch
Kuchen dazu. Ich weiß, dass du Schmandkuchen magst.“ Sie redete immer
weiter, bis ich schließlich sagte: „Okay Oma, ich komme….ich komme
wenn ich mit dem Kochen fertig bin, ungefähr in einer Stunde…. Ok ?
Nach genau einer Stunde klingelte es wieder und da stand sie erneut.
„Oma, ich bin heute so im Stress, können wir nicht morgen Kaffee
trinken?!“ Oma hatte meine Ungeduld bemerkt und ging, ohne viel zu
sagen.
Keine halbe Stunde später stand sie wieder vor der Tür – diesmal mit
einer großen Tasse Kaffee in der einen und einem Stück Kuchen in der
anderen Hand. Sie wollte schon wieder gehen, als ich alles bei seite
legte und sie in die Arme nahm. Ihre Besorgnis um mich gab mir ein
Gefühl der Geborgenheit und das trieb mir vor Glück Tränen in die
Augen. Ich merkte, dass es mehr wert war, in Ruhe mit ihr den Kaffee
zu trinken, als all der Aufwand rund um das Haus – wegen dem Abend.
Diese kleinen Gesten der Liebe und Zuneigung sind so wertvoll im
Leben, und doch scheinen wir dies oft zu vergessen und Unwichtiges in
den Vordergrund zu stellen. Eigentlich ist es doch so: Die besten
Episoden des Lebens sind die kleinen, namenlosen, in Vergessenheit
geratenen Handlungen aus Freundschaft und Liebe.
2 Das Buch heißt ‚Mit Anderen Augen‘ und jetzt eine Episode die mit
Augen zu tun hat
Der Besuch eines Arztes gleicht in Deutschland beinahe einer Tortur.
Manchmal sitzt man fünf Stunden lang im Wartezimmer, dann wird man ins
Sprechzimmer gerufen und die eigentliche Behandlung ist innerhalb von
fünf Minuten beendet. Die Ärzte haben fast keine Zeit für die
Patienten. Als Patient schreibe ich immer während meines Aufenthalts
im Wartezimmer all meine Fragen auf, um den Arzt sofort, wenn ich ins
Sprechzimmer bin, mit diesen Fragen zu bombardieren. So muss er nicht
seine kostbare Zeit an mich vergeuden. Ich werde niemals den Tag
vergessen, als ich einen Termin bei meinem Augenarzt hatte. Ich wurde
ins Sprechzimmer gerufen, und er begann meine Augen zu untersuchen.
Zunächst musste ich ein Auge schließen und der Arzt hielt Gläser
verschiedener Stärken vor mein offenes Auge. Ständig lautete dann
seine Frage: „Ist das erste Glas besser oder dieses hier?“ „Dieses
hier!“, antwortete ich. Immer und immer wiederholt sich der Vorgang
und mit der Zeit ist man völlig verwirrt und hat keine Ruhe mehr
nachzudenken. Seine Fragen müssen innerhalb von Sekunden beantwortet
werden. Auch an diesem Tag ging es so; nach einiger Zeit sagte er:
„Okay, jetzt schließen Sie bitte das Auge und öffnen das andere, und
bitte sagen Sie mir, was sie auf der Wand sehen“. Ich konnte überhaupt
nichts sehen! Aber ich war mir bewusst, wie viele Patienten ungeduldig
im Warteraum saßen. Also sagte ich einfach: „Der erste Buchstabe ist
ein ‘B’, dann ‘D’ und dann ein ‘I’ ...“. Der Arzt unterbrach mich:
„Gnädige Frau, auf der Wand sind keine Buchstaben sondern Zahlen.“ Oh,
je. Er war ziemlich ernst, vielleicht auch besorgt aber ich konnte
nicht aufhören zu lachen. In meinen Schultagen lernten wir diese
Zahlen oder Buchstabenkombinationen auswendig, wenn der Besuch eines
Augenarztes drohte. Keiner von uns Kindern wollte eine Brille tragen.
Darin liegt vielleicht die Ursache für meine schlechten Augen heute.
3 Typisch deutsch!
„Fußball schauen, Bier trinken, Würstchen mit Sauerkraut essen, extrem
bürokratisch sein, dies sind typisch deutsche Eigenschaften“, sagt
man. Solche Verallgemeinerungen sind immer schlecht, aber wir Menschen
greifen häufig auf sie zurück.
Wir sagen: „Moslems sind ehrliche Leute, für Hindus ist Wissen das
wichtigste im Leben, für Christen ist es die Liebe und Spirituelle
predigen immer die Wahrheit“. Noch weitere Beispiele?: „Engländer
haben gute Manieren, die Schotten sind geizig, Amerikaner
oberflächlich, Schwarze können gut singen und sind gute Athleten und
Japaner reisen immer herum und fotografieren!“
Die Liste typisch deutscher Eigenschaften wäre eine sehr lange Liste.
Ein paar davon möchte ich ansprechen.
Meine beste Freundin kommt nach langem Urlaub aus der Karibik zurück.
Ich will sie so gern endlich wieder sehen und rufe sie an: „Spring in
dein Auto und komm rüber. Der Tee steht schon bereit.“ Aber sie kann
nicht. Sie muss noch ihren Koffer auspacken, ihre dreckigen Kleider
waschen, sie bügeln und in den Schrank packen. Außerdem ist ihr Garten
nach all der Zeit ganz verwuchert. Das ist alles so typisch Deutsch.
Es gibt auch ungeschriebene Gesetze, die uns am Anfang unseres
Aufenthaltes in Deutschland unbekannt waren. Einmal hängte ich
sonntags draußen Wäsche auf. Wir wohnten in einem großen Haus und es
war angenehmer, die Wäsche draußen aufzuhängen, statt sie immer in der
Wohnung zu trocknen. Unsere Hausmeisterin klingelte und bat mich
darum, die Wäsche hinein zu holen. Ich verstand nicht warum und sagte:
„Die letzten acht Tage hat es nur geregnet, heute scheint die Sonne.
Warum sollte ich den Tag nicht nutzen? In einer Stunde ist sie
bestimmt trocken und morgen regnet es vielleicht schon wieder.“ „In
Deutschland ist es nicht erlaubt, sonntags Wäsche draußen aufzuhängen,
auch nicht, wenn es sonnig ist“, sagte sie. „Es kann sogar sein, dass
die Nachbarn die Polizei rufen.“ Ich war verblüfft und wusste nicht,
was ich dazu sagen sollte.
Man erzählt mir oft, dass dies einen religiösen Hintergrund hat. Aber
wenn die Mehrheit der Leute kaum einmal zum Gottesdienst geht, wieso
folgen sie dann diesen ungeschriebenen Gesetzen?
Deutsche sind immer in Eile und haben keine Zeit. Es ist
unverständlich für die Deutschen daß wir meistens Zeit haben. Es ist
vielleicht unsere asiatische Mentalität. Wir empfinden es nicht als
eine Verschwendung von Zeit, mit Freunden einfach da zu sitzen und Tee
zu trinken, zu reden oder zu lachen – einfach eine gute Zeit zu haben.
Keine Zeit haben, ist die Krankheit jeder Wohlstandsgesellschaft.
Ich denke an so viele weitere deutsche Eigenschaften. Die Deutschen
lieben es, in den Urlaub zu fahren; Sie sind extrem wohltätig
eingestellt, sind ein sehr emotionales Volk. Sie würden nie Teppiche
kaufen, die in Kinderarbeit hergestellt wurden. Die am häufigsten bei
ihnen auftretende Krankheit sind Kreislaufprobleme. Niemand weiß so
richtig, was eigentlich passiert, wenn sie darunter leiden. Deutsche
lieben ihre Haustiere über alles. Deutsche pflegen eine extreme Liebe
zu ihren Autos – je stärker die Maschine, desto besser! Die Deutschen
sind ein Volk - Perfekt, flott und genau, was Arbeit betrifft. Kein
anderer Europäer kann mit ihnen konkurrieren.
Nun, was ist noch typisch Deutsch? Deutsche sind sehr fleißig und
vorbildlich diszipliniert.
4 Jetzt eine Episode die mit Wetter zu tun hat
Für jemanden, der aus einem sehr heißen Land in ein sehr kaltes Land
kommt, spielt das Wetter eine wichtige Rolle. Man hat nie Temperaturen
von null Grad erlebt und schon gar nicht Minustemperaturen. Dass man
in Bombay einmal einen Pulli brauchte, kam vielleicht einmal in vier
bis fünf Jahren vor. Bei plus fünfzehn Grad war das Hauptthema in der
Stadt die „kalte Wetterfront“. Leute, die mit ihren Pullovern angeben
wollten, wechselten alle zwei Stunden. Schließlich wusste man nicht,
ob die „Kältewelle“ auch morgen noch anhalten würde. Schnee war wie
ein Mythos aus einem Märchen. In Indien existierten die vier
Jahreszeiten nicht. Es gab nur zwei Jahreszeiten für uns: die heiße
und sehr heiße! Ich mag den Schnee und die Winter in Deutschland.
Es war so ein sehr harter Winter in den Siebzigern; einer meiner
ersten Winter in Deutschland. Die Temperaturen waren um die minus zehn
Grad, aber die Sonne schien intensiv. Ich hatte Wäsche gewaschen und
dachte, die Kleider würden in ein bis zwei Stunden trocknen, wenn ich
sie nach draußen hängen würde. Ich hängte sie also draußen auf und
ging nach zwei Stunden hinaus, um sie wieder abzuhängen. Was ich da
sah war unglaublich. Sie waren alle gefroren. Einen Moment lang,
wusste ich nicht, was ich machen sollte. Dann goss ich lauwarmes
Wasser über sie und nahm sie mit, bevor das Wasser wieder fror. Das
war eine unglaubliche Erfahrung.
Ein junger Freund von uns, der gerade von Indien für eine Weile nach
Deutschland gezogen ist, erlebt ebenfalls die Wunder des Wetters.
Einmal parkte er sein Auto draußen und deckte die Scheiben nicht ab.
Wir konnten gar nicht mehr aufhören zu lachen, als er uns erzählte,
was er gemacht hatte, als er eines Morgens zu seinem Auto kam, und die
ganze Frontscheibe zugefroren war. Als er zur Arbeit musste, holte er
einen Eimer voll heißes Wasser und goss es über die Scheibe.
Glücklicherweise passierte dem Glas nichts. Er meinte später: „Ich
hoffe, niemand hat mich dabei gesehen.“ Aber wie kann er schließlich
die Tricks im Winter kennen, wenn er in seinem ganzen Leben noch nie
damit konfrontiert wurde?
5 Sprache ist so wichtig!
Die Sprache des Landes zu beherrschen, in dem man lebt, ist eine
Notwendigkeit. Ganz sicher ist es die Sprache, die Menschen einander
näher bringt, mehr als irgendetwas anderes. Als meine Mutter hier ins
Krankenhaus kam, gab es hauptsächlich Probleme, weil sie die Sprache
nicht beherrschte. Die Krankenschwestern und sie konnten sich
gegenseitig nicht verständigen. Jeden Tag ging ich ins Krankenhaus und
sprach mit dem Personal. Einmal, als ich mit der Nachtschwester
sprach, sagte sie: „Ihre Mutter kann in manchen Sachen sehr stur
sein.“ Ich fragte verwundert: „Warum, was ist geschehen?“ „Sie weigert
sich ihr Gebiss herauszunehmen, selbst wenn sie abends ins Bett geht.“
Ich musste lachen. „Sie hat gar kein Gebiss. Es sind ihre eigenen
zweiunddreißig Zähne und sie hat nicht mal ein einziges Loch.“ Die
Nachtschwester konnte es kaum glauben. Sie fand das so witzig und
erstaunlich, dass sie die anderen Schwestern rief und ihnen erzählte,
was sie gerade erfahren hatte. Sie alle lachten herzlich. Dann schlug
sie vor: „Warum schicken Sie den Namen Ihrer Mutter nicht an die AOK?
Dort ist dieses Jahr ein großer Preis für die älteste Person mit
gesunden, intakten Zähnen ausgeschrieben.“ Ich bin mir sicher, dass
sie mit fast 80 Jahren hätte den Preis bestimmt bekommen.
6 Ein Inder der mit einer deutschen Frau verheiratet ist
Ich besuchte einmal eine gute Freundin, die mit einem Inder
verheiratet ist. Wir saßen in ihrem Wohnzimmer bei einer Tasse Tee.
Ihr Mann war in seinem Büro oben beschäftigt. Plötzlich kam er mit
einer Hose in den Händen ins Wohnzimmer. Er fragte uns, ob wir ihn in
den Laden begleiten wollten, wo er die Hose vor zwei Wochen gekauft
hatte. „Was?! Du willst doch nicht die Hose zurückgeben, die schon auf
deine Große gekürzt ist?“, entgegnete meine Freundin Claudia entsetzt.
„Man kann es ja einmal versuchen“, antwortete er gelassen. „Ich mochte
die Hose als ich sie gekauft habe, aber ich glaube, ich habe einen
Fehler gemacht.“
Claudia war keineswegs daran interessiert, ihn zu begleiten. Vikram,
so hieß er, war ein Schlawiner mit einem lakonischen Sinn für Humor.
Er beschloss, dann eben alleine in den Laden zu gehen. Ich fragte
Claudia, ob sie die Hose wirklich zurücknehmen würden. „Ihr Inder
schafft das Unmöglichste!“, gab sie mir zur Antwort. Das kam mir
bekannt vor, denn meine Kinder sagen das ja auch immer zu mir. Ich
hätte jedoch niemals geglaubt, dass Vikram bei diesem Vorhaben Erfolg
haben würde. Nach einer Weile kam er zurück und hielt immer noch die
Hose in seinen Händen. Sein Gesichtsausdruck war so unschuldig wie
immer, als sei nichts geschehen, wovon er erzählen müsse. Er hatte
offensichtlich vor, uns beim Tee trinken Gesellschaft zu leisten. Er
legte die Hose zur Seite und ging in die Küche, eine Tasse zu holen.
Claudia wollte ihn ein bisschen ärgern und sagte mit eine schmunzeln:
„bist dieses Mal wohl nicht so erfolgreich gewesen, was?“ „Wieso
glaubst du das?“ „Weil du die Hose wieder zurück gebracht hast.“
Dann erzählte er uns eine unglaubliche Geschichte. Er war in den Laden
gegangen und hatte der Verkäuferin gesagt, dass er die Hose, die er
auf seine Länge gekürzt hatte, gern zurückgeben wollte. Ohne
großartigen Protest oder Diskussion nahm die Verkäuferin die Hose
wieder zurück und erstattete Vikram sogar den vollen Betrag von
fünfzig Euro. Als sie die Hose auf einen Kleiderbügel hängte, fragte
er sie, was sie denn jetzt damit machen würde. Sie sagte, sie werde
die Hose nun zum Sonderpreis von zwanzig Euro verkaufen. Daraufhin
erklärte ihr Vikram ohne jegliche Hemmungen, dass er in diesem Fall
nichts dagegen hätte, die Hose nochmal zu kaufen. Und tatsächlich, gab
sie Vikram die Hose für zwanzig Euro. Also Claudia hatte recht mit
ihrer Aussage: „Ihr Inder seid fähig, die unmöglichsten Dinge zu
vollbringen.“
7 Hindu sein in der christlichen Gesellschaft
Viele haben mir die Frage gestellt, wie ich meine Religion hier in der
christlichen Gesellschaft praktiziere. Praktizieren? Ich praktiziere
meine Religion hier nicht. Ich habe keinen Tempel in der
Nachbarschaft, wo ich hingehen kann, um zu beten. Ich habe das auch
nicht in Indien getan, wo es jede Menge Tempel gibt. Ich glaube, ein
echter Hindu braucht seine Religion nicht zu praktizieren. Die Art und
Weise, wie ein Hindu aufsteht und die Sonne ehrt, ist seine Religion;
die Art und Weise, wie er sich wäscht, ist seine Religion; die Art und
Weise, wie, was und mit wem er isst, ist seine Religion. Wenn er zur
Arbeit geht und acht Stunden arbeitet, das ist Religion. Die Zeit, die
er mit seiner Familie verbringt, ist Religion. Auch wenn er mit
Freunden zusammen sitzt, ist das Religion. Sein ganzer Alltag ist
insofern religiös, als dass alles was er tut, durch „Dharma“ geregelt
ist. Unter „Dharma“ versteht der Hindu das ewige Gesetz, die obere
Macht.
Hinduismus ist keine „Religion“ im eigentlichen Sinn des Wortes.
Hinduismus ist eine Philosophie, die es bereits seit 2000 vor Christus
gibt. Einige Historiker sagen, der Hinduismus sei vor 3500 Jahren
entstanden. Wir haben keine zentrale Organisation wie die Kirche im
Christentum. Wir haben auch kein Heiliges Buch, wie die Bibel oder den
Koran. Bestimmte Grundsätze, wie Toleranz, Ehrlichkeit,
Gewaltlosigkeit und Tier- und Naturliebe sind einige elementare
Komponenten des Hinduismus. Es ist die Tierliebe, die uns dazu bringt,
einen Affen, eine Schlange und einen Elefanten (Ganesh) als Gott zu
haben. Wir werden oft wegen der „heiligen Kuh“ ausgelacht. Eine Kuh
ist „heilig“ für Hindus, weil sie ein sehr wichtiges Tier und damit
sehr wertvoll ist. Die Milch, die wir von ihr erhalten, hat einen
Überfluss an Proteinen, Vitaminen, Fetten und Mineralien. Sie ist
Nahrung mit einem sehr hohen Nährwert. Es ist bewiesen, dass kein
anderes Nahrungsmittel all diese Nährwerte besitzt. Ein Bulle kann
auch auf dem Feld eingesetzt werden, um das Land zu pflügen. Wenn eine
Kuh stirbt, kann ihre Haut zu Leder verarbeitet werden. Selbst ihr Kot
wird in Indien oft getrocknet und als Brennmaterial verwendet. Solch
ein wertvolles Tier, denken die Hindus, soll nicht nur des Fleisches
willen geschlachtet werden.
Wie jeder weiß, war Gandhi der Anführer der Hindus und der Verfechter
der Gewaltlosigkeit. Wir leben den Hinduismus und verfolgen bestimmte
Prinzipien. Es gibt bestimmte Dinge, die uns dazu bewegen. Eines davon
ist die Inkarnation. Ein Hindu glaubt, dass der Mensch eine
unsterbliche Seele hat. Im Gegensatz dazu lehrt die Bibel, dass der
Mensch selbst die Seele ist.
Das Leben nach dem Tod ist ein wichtiger Teil des Hinduismus. Genauso
wie die Seele oft wandert, wenn ein Junge zum Mann wird oder ein
Mädchen zur Frau, so wandert die Seele in einen neuen Körper, wenn
eine Person stirbt. Das gute Verhalten bestimmt die Art der
Wiedergeburt. Deswegen ist der Mensch der Schöpfer seines eigenes
Schicksals.
Viele Deutsche fragen mich, warum Hindus so viele Götter haben. Wenn
man das Prinzip der Inkarnation akzeptiert, begreift man, dass so
viele verschiedene Götter nur die Inkarnationen von den Hauptgöttern
sein können. Hindus glauben auch, dass Buddha und Jesus Inkarnationen
von Gott Vishnu sind.
Deutsche glauben oft, dass das Kastenwesen in Indien ein Bestandteil
der hinduistischen Religion ist. Ich glaube, dass das nichts mit der
Religion zu tun hat. Es ist eine soziale Ordnung, die der Mensch
erfunden hat. Sie wurde aus der Bequemlichkeit der Menschheit heraus
erschaffen. Wenn sie in letzter Zeit einen schlechten Ruf erlangt hat,
dann ist allein der Mensch dafür verantwortlich, nicht die Religion.
Die vier Klassifikationen von Priestern, Soldaten, Kaufleuten und
Dienenden basieren hauptsächlich auf den Berufen. Im Laufe der Zeit
wurden die Leute aus den untersten Kasten von hohen Kasten schlecht
behandelt und sie begannen sie „Unberührbare“ zu nennen, weil Jobs wie
Toiletten sauber machen, Straßen kehren oder Müll abfahren von diesen
Leuten verrichtet wurden. Gandhi fiel das auf und er begann sie,
„Gottes Menschen“, zu nennen.
Der Hinduismus ist eine der tolerantesten Religionen. Gandhi sagte
immer: „Durch den Hinduismus liebe ich das Christentum, den Islam und
viele weitere Religionen.“ Das ist einer der Gründe, warum der
Hinduismus überall auf der Welt „praktiziert“ werden kann.
Wenn ich das Gefühl habe, in einen Tempel gehen zu wollen, dann gehe
ich in eine christliche Kirche. An meinem kleinen Altar zu Hause habe
ich sogar ein Jesusbild neben den anderen Göttern. Wir feiern
Weihnachten genauso wie die Christen das tun – wir holen einen
Weihnachtsbaum, dekorieren ihn, kaufen Geschenke und singen Lieder.
Ich liebe Weihnachten genauso wie, das hinduistische Fest der Lichter.
Der breite Horizont des Hinduismus machte es für uns einfach, mit
Leuten anderen Glaubens zusammenzuleben.
8 Gandhi
……. nach und nach entstand zwischen Gandhi und unserer Familie ein
freundlicher Gesprächsaustausch. Ich habe gute Erinnerungen daran.
Eine Episode möchte ich heute erzählen. Es war Diwali – ein
bedeutendes Fest für Hindus. Ähnlich wie Weihnachten hier. Aus diesem
Anlass wollte meine Mutter Gandhi selbst gemachte Süßigkeiten
schenken. Meine Schwester sollte sie Gandhi in die Klinik bringen.
Meine Schwester zog ein Fest-Sari an – es war schließlich Diwali - und
ging in die Klinik. Sie traf Gandhi in einem Versammlungsraum an und
überreichte ihm die Süßigkeiten. Gandhi bedankte sich freundlich und
sagte zu ihr, „Du siehst wunderschön aus, aber dein Sari gefällt mir
nicht weil er in England produziert wurde. Wir sollten unsere eigenen
Produkte tragen. Das bringt Arbeit für unsere Menschen. Ich webe meine
Kleidung selber. Willst du mein Spinnrad sehen?“ Meine Schwester war
nicht interessiert. Sie kam Heim und erzählte meiner Mutter. „ Gandhi
hat mich beleidigt. Er fand meinen Sari nicht schön weil er in England
gemacht wurde. Er hat doch keine Ahnung von Saris. Glaubt er ich würde
sein hässliches Zeug tragen? Niemals.“ Als 11 Jährige war sie noch zu
jung um die politische Tragweite zu verstehen.
Indien war der größte Produzent für Stoffe in der ganzen Welt bis die
Engländer kamen. Sie haben unsere heimische Textilindustrie zerstört.
Unsere Exporte werden hoch besteuert und die englischen Importe waren
zollfrei. Unsere Rohstoffe haben sie nach England genommen und dort
verarbeitet.
Katharina
Martin-Virolainen, geboren 1986 in der Sowjetunion
Ich erblickte das Licht der Welt an einem kalten Märztag. Wochenlang
hatte es geschneit und gestürmt. Draußen regierten Kälte und Frost. In
dieser Gegend konnte der Winter lange andauern. Der Schnee überraschte
einen nicht selten auch im Mai. So war es für Ende März nichts
Ungewöhnliches, dass die Landschaft noch ganz in Weiß erstarrt lag.
Doch dann, pünktlich zu meiner Geburt, kam plötzlich die Sonne heraus.
Sie schien in die Fenster des städtischen Krankenhauses, und die
Frauen auf der Geburtsstation freuten sich unbändig über so viel
warmes Licht in dieser tristen Umgebung. Die Sonnenstrahlen spielten
an den Wänden, streiften die Möbel und verschwanden manchmal ganz
ruckartig, wenn sie doch noch von einer Wolke erwischt wurden.
Solange ich denken kann, und meine Mutter wird es ebenfalls bestätigen
können, war an meinem Geburtstag immer schönes Wetter. An einem
bestimmten Tag im März kommt die Sonne, wenn auch nur für ein paar
Stunden, aus ihrem Versteck, um mir zu gratulieren. Sie ist ein
Symbol, das mich schon mein ganzes Leben lang begleitet. Sogar die
Haarfarbe habe ich von der Sonne geerbt.
Nun war ich also geboren. In einem schönen Land mit unendlichen
Weiten. Dem größten Land auf diesem Planeten. In einem Land, so stolz,
unermesslich und für viele so unbegreiflich. Ich wurde in Russland
geboren. Also bin ich eine Russin, sollte man meinen. Aber die
Behörden hatten da ganz andere Vorstellungen von nationaler
Zugehörigkeit. „Der Vater ist Deutscher, also kriegt das Kind auch die
deutsche Nationalität.“ Punktum! Stempel drauf und fertig! So wurde
ich kurz nach meiner Geburt gleich zu einer Deutschen erklärt, dank
diesem Stempel. Das ist übrigens ein weiteres Symbol, das mich mein
Leben lang begleiten wird.
Ich wuchs in einem kleinen Dorf in der Nähe von Kareliens Hauptstadt
Petrosawodsk auf. Mit meinem deutschen Papa, meiner finnischen Mama,
meinem finnischen Opa, einer finnischen Großtante und anderen
finnischen Verwandten. Und dann waren da noch meine russische Oma,
meine russischen Verwandten, meine russischen und finnischen Freunde,
karelische Verwandten und Freunde ... Doch nun Schluss damit, das
verwirrt ja sogar mich selbst!
Wer kennt nicht das bekannte Gedicht des großen russischen Dichters
Puschkin, in dem er fragt: „Was läge Dir an meinem Namen?“ Dasselbe
fragte ich mich damals als Kind auch. Was haben die Leute denn ständig
mit ihren Namen? Mir war es, als ob sie anhand der Namen Unterschiede
zwischen den Menschen machten. So ganz falsch lag ich nicht. Für mich
waren die Saschas, Nataschas und Oljas aus meiner Kindergartengruppe
einfach nur Kinder. Doch die Unterschiede lernte ich dann in der
Schule kennen und bekam sie zu spüren.
Eingeschult wurde ich – wie jedes andere Kind in Russland auch – am 1.
September. Kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, nämlich im
Jahr 1992. Der 1. September ist in Russland ein Feiertag. Die Kinder
dürfen nach den dreimonatigen Sommerferien endlich zurück in die
Schule, und die Eltern atmen erleichtert auf, weil sie sich nicht mehr
den Kopf darüber zerbrechen müssen, wie sie das Kind in den Ferien
beschäftigen können. Zu meiner Einschulung kam die halbe
Verwandtschaft, denn ich war schließlich das erste Kind, die erste
Enkelin, die erste Nichte und, und, und ...
Meine Großmutter, die damals Chefköchin in der städtischen Kantine
war, kündigte ihre Stelle, ging an die Schule und arbeitete fortan
dort als Chefköchin. Hauptsache, die arme Enkelin musste nicht
hungern. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.
Nach allen Feierlichkeiten nahmen uns die Schüler aus der Oberstufe an
die Hand und führten uns in unser Klassenzimmer. Mich nahm einer der
großen Jungs an die Hand. Im ersten Moment noch ziemlich
eingeschüchtert, war ich im nächsten Augenblick schon wieder
glücklich. Denn mich, das kleine Wesen, das sich hinter übertrieben
großen Haarschleifen und Blumenstrauß versteckte, begleitete ein
ziemlich gut aussehender junger Mann ins Klassenzimmer.
Zurück zur Einschulung. In unserem Klassenzimmer nahmen wir alle an
den kleinen Tischen Platz, während unsere Eltern und die Verwandten
versuchten, sich alle gleichzeitig in die Tür zu quetschen, um einen
Blick auf uns zu erhaschen. Ich glaube, wir empfanden sie als peinlich
und waren froh, als die Lehrerin die Gaffer endlich verabschiedet hat
und der Unterricht beginnen konnte.
Meine Eltern fuhren nach Hause, denn meine Mutter musste ja ein
Festmahl zubereiten – nach der Schule würden alle Verwandten bei uns
eintrudeln, um meine Einschulung zu feiern. So lief sie in der kleinen
Küche auf und ab, bis sie plötzlich aus dem Fenster etwas höchst
Ungewöhnliches sah. Und zwar mich. Ich schlenderte in aller Seelenruhe
über die unasphaltierte Straße. Meine Mutter (damals hochschwanger mit
meinem Bruder) zweifelte wohl erst an ihrem Verstand, schaute dann auf
die Uhr, und nachdem sie festgestellt hatte, dass sie weder verrückt
war noch die Zeit vergessen hatte, sprang sie mir bereits entgegen und
fragte: „Katja, ist die Schule schon etwa vorbei?“ Sie konnte sich
nicht erklären, wieso ich allein den weiten Weg gelaufen war, wenn
meine Großmutter doch in der Schule arbeitete. Als Antwort gab ich
einen genialen Satz von mir: „Ach, ich dachte mir, was soll ich da
herum sitzen? Ich weiß doch schon alles.“
Zu meiner Verteidigung muss gesagt werden, dass ich bereits mit fünf
Jahren sehr gut lesen konnte. Sehr, sehr gut. Ich hatte meine Eltern
damals so sehr genervt mit meinem ewigen „Lies mir bitte eine
Geschichte vor!“, dass mein Vater beschlossen hatte, mir das Lesen
beizubringen, um sich und meine Mutter zu entlasten. Ich habe es
ziemlich schnell gelernt und verschlang danach ein Buch nach dem
anderen. Anstelle des nervigen „Lies mir bitte eine Geschichte vor!“
trat das selbstbewusste „Ich erzähle dir jetzt eine Geschichte!“ Nein,
ich weiß nicht, wie meine Eltern das überlebt haben. Zu ihrer
Verteidigung muss gesagt werden: Egal, wie sehr man sein Kind liebt –
ihm vierundzwanzig Stunden hintereinander zuhören zu müssen, halten
nicht einmal die liebenswürdigsten Eltern auf diesem Planeten aus. Und
in Russland war damals weiß Gott nicht die richtige Zeit für
Geschichten. Dort lauerte an jeder Ecke irgendeine Arbeit. Man musste
Wasser holen, Holz hacken, den Gemüsegarten pflegen, das Kartoffelfeld
bewirtschaften, die Wäsche mit der Hand in der Banja waschen etc.
Deshalb kauften meine Eltern mir leere Kassetten, setzten mich vor den
Kassettenrecorder und sagten, dass ich die Geschichte doch bitte
aufnehmen solle, dann würden sie sich diese am Abend anhören. Ich
stürzte mich in das Aufnehmen von Geschichten und fühlte mich dabei
wie eine Radiosprecherin. Wenn eine Seite der Kassette voll war,
drehte ich diese um, steckte sie wieder hinein und nahm weiter auf.
Dass ich meine eigenen Geschichten x-Mal überschrieben habe, das war
mir nicht so ganz klar. Und natürlich wollte ich meinen Eltern immer
etwas Neues bieten. Deswegen habe ich noch mehr gelesen. Und noch mehr
aufgenommen und dann wieder gelesen und aufgenommen ... Genug zu tun
für so ein kleines Mädchen!
Bevor ein Kind in Russland eingeschult werden konnte, bekam jede
Familie Besuch von einer Vertreterin der „Kommission“. Diese schaute
sich die Lebensumstände an, prüfte, was das Kind bereits konnte und
entschied dann, ob es für die Schule reif genug sei oder lieber doch
noch ein Jahr in den Kindergarten gehen sollte. Als diese neunmal
kluge Tante bei mir im Zimmer saß, wollte sie von mir wissen, ob ich
schon lesen könne. Ha! Und ob ich das konnte. Sie bat mich, ein Buch
herauszuholen und etwas daraus vorzulesen. Wahrscheinlich erwartete
sie irgendeine Kleinkindgeschichte, die man nach Silben lesen musste,
doch ich holte den dicken Sammelband mit den „Märchen und Sagen der
nordischen Völker“ heraus. Als ich zu lesen begann und kilometerlange
Namen, die sie wahrscheinlich selbst nicht einmal auf Anhieb lesen
könnte, mit ungezwungener kindlicher Schnelligkeit aussprach, wurden
ihre Augen ganz groß. Nach der Prüfung ging sie zu meiner Mutter und
sagte: „Ich habe schon sehr viel gesehen. Aber so etwas noch nie!“
Und jetzt stelle man sich vor: Da sitze ich endlich in der Schule,
bestens vorbereitet, habe bereits unzählige Bücher gelesen, und es
dürstet mich nur so nach Wissen. Und dann fängt die Lehrerin –
übrigens eine junge und hübsche Lehrerin, frisch von der Hochschule –
mit Folgendem an: „Schaut mal, Kinder, dieser Buchstabe ist ein A“.
Ich gehe davon aus, dass meine Mutter sich dieses Szenario bereits im
Kopf ausgemalt hatte, sodass sie überhaupt nicht weiter nachgefragt
hat, warum ich denn so „bescheiden“ davon ausgehe, dass ich schon
alles weiß. Sie fragte nur: „Hast du überhaupt jemandem gesagt, dass
du nach Hause gehst?“ „Natürlich“, antwortete ich. „Ich habe es Olja
Schubina gesagt.“ Die besagte Olja Schubina war meine
Kindergartenfreundin, die in der Parallelklasse gelandet war. Als
meiner Mutter das Ausmaß dieser Katastrophe bewusst wurde, sprang sie
ins Auto und düste die staubige Straße davon.
Die Situation in meiner Schule war vergleichbar mit jener, die
entsteht, nachdem jemand einen Feueralarm ausgelöst hat. Jeder,
absolut jeder, suchte nach mir. Meine Großmutter Tamara, die eine sehr
füllige Dame war, rannte die Treppen hinauf und herunter,
tränenüberströmt, auf der Suche nach ihrer geliebten Enkelin. Als
meine Mutter das Lehrerzimmer betrat, war die arme Swetlana
Wladimirowna, meine Klassenlehrerin, einer Ohnmacht nahe, die Augen
verweint, und die halbe Belegschaft war dabei, die Ärmste zu
beruhigen. Heute kann ich mir vorstellen, dass es überhaupt nicht
lustig ist, wenn am ersten Arbeitstag, in der allerersten Schulklasse
nach der ersten Stunde gleich ein Kind verschwindet. Meine Mutter trat
auf sie zu und sagte nur: „Keine Sorge. Sie ist schon zu hause“. Ende
der Vorstellung – Vorhang.
Am nächsten Tag lachten bereits alle Tränen, wenn sie diese Geschichte
erzählten. Alle außer Swetlana Wladimirowna. In der ersten Stunde kam
sie auf mich zu und zischte: „Mach das nie, nie wieder!“ Ansonsten
hatte ich immer ein gutes Verhältnis zu ihr. Wer hätte gedacht, dass
die Ausreißerin mal zur besten Schülerin des ganzen Jahrgangs werden
würde?! Die Lehrer prophezeiten mir einen Abschluss mit Auszeichnung.
Und vielleicht wäre es auch so gekommen, wären wir in Russland
geblieben. Aber Gott hatte andere Pläne mit mir.
In der Schule erhielten wir zu unseren Vornamen plötzlich auch noch
Nachnamen. Ich kann mit noch gut an meine strenge Russischlehrerin in
der fünften Klasse erinnern. Sie duldete absolut keinen Lärm und
Ungehorsam. Ich saß in der ersten Reihe. Direkt hinter mir saß
Saschka, mit dem ich bereits zusammen in den Kindergarten gegangen
war. Ich war das größte Mädchen in der Klasse, er der kleinste Junge.
Im Sport standen wir immer nebeneinander. Er ärgerte mich, und ich gab
natürlich nie nach und rächte mich mit Tritten und Schlägen. Die
Lehrer fanden das alles eher amüsant und sagten scherzhaft zu mir:
„Pass auf, Katharina, jetzt ist er noch klein. Aber in den oberen
Klassen überholt er dich in der Größe und dann wirst du dich noch in
ihn verlieben.“ Das führte natürlich immer zu großem Gelächter. Nur
ich fand das überhaupt nicht lustig. Im Russischunterricht fand ich es
aber sehr amüsant, dass er hinter mir saß. Neben Saschka saß Schenja
Gagarin, der ein Nachbar meiner Oma war und mit dem ich auch sehr oft
im Hof gespielt habe. Saschka und Schenja haben die ganze Stunde
Unsinn geredet, und ich lehnte mich mit dem Stuhl zurück, um besser
zuhören zu können. Manchmal, wenn es besonders spannend war, wagte ich
es sogar, mich um zudrehen und auch meinen Senf dazu zugeben. Doch in
derselben Sekunde stand Swetlana Wiktorowna vor mir, knallte mit dem
Zeigestock auf den Tisch und schimpfte: „Martyn, Tschmak, Gagarin! Es
reicht!“ Mich machte es immer furchtbar wütend, dass sie meinen Namen
falsch aussprach. Aber ihr zu widersprechen wagte ich nicht.
Es war in Russland üblich, dass unsere Lehrer uns mit dem Nachnamen
ansprachen. Besonders, wenn sie mit uns unzufrieden oder einfach nur
schlecht gelaunt waren. „Tomilin, hast du Hummeln im Hintern oder was?
Setz dich richtig hin!“ – „Safonowa, an die Tafel!“ – und so weiter.
In meinen Augen ließ sich die Klasse nach den Familiennamen in drei
Kategorien teilen: Diejenigen mit den russischen Namen, diejenigen mit
finnischen Namen und ich mit meinem deutschen.
Unter all den Russen, Finnen und Kareliern war und blieb ich eine
Deutsche. Obwohl ich mich so gar nicht fühlte. Wie fühlt man sich denn
als Deutsche? Das konnte ich damals als Kind nicht beantworten. Wie
gern wollte ich stattdessen eine Finnin sein! Oder noch besser: eine
Karelierin! Oder auch eine Russin! Aber so fühlte ich mich ständig wie
ein Fremdkörper: Eine Deutsche in Russland unter Finnen und Kareliern.
Mein Wunsch, als Finnin oder Russin durch zu gehen, wollte sich
einfach nicht erfüllen. Erstens hieß ich weder Petrowa noch Iwanowa,
weder Haimi noch Savolainen, sondern kurz und knapp und richtig
deutsch: Martin. Und dazu noch Katharina – nein, nicht typisch
russisch Jekaterina oder so. Meine Eltern haben mich aus Prinzip
gleich mit einem deutschen Namen gesegnet. Und als i-Tüpfelchen hieß
ich mit dem Vatersnamen auch noch Ottowna.
In der Schule durfte ich nicht Finnisch lernen, weil es parallel zum
Deutschunterricht lief, den ich auf Anordnung meiner Mutter besuchen
musste. Schließlich war ich ja eine Deutsche, und meine Mutter hat
großen Respekt für meinen Vater und seine Herkunft.
Zu allem Übel kam noch der gefürchtete Geschichtsunterricht mit dem
Thema: Der Zweite Weltkrieg und das deutsch-russische Verhältnis.
Obwohl meine Klassenkameraden sich nichts anmerken ließen und keine
bösen Kommentare in meine Richtung abgaben, spürte ich ihre Blicke und
sah den einen oder anderen ständig zur mir herüber schielen. In diesen
Momenten wollte ich am liebsten meine Geburtsurkunde aufessen.
So war und blieb ich eine ewige „Njemka", die Deutsche, und habe mich
auch irgendwann damit abgefunden. Ich habe nicht mehr danach gestrebt,
als Finnin anerkannt zu werden. Irgendwann fand ich an meiner Rolle
sogar Gefallen. Dann bin ich eben nicht so wie die anderen. Ja, dann
bin ich eben einzigartig!
Als ich in der fünften Klasse war, behandelten wir im Musikunterricht
das Thema „Geschichten und Liedgut des finnischen Volkes“. Dabei kamen
wir irgendwie auf das typische Aussehen bestimmter Völker zu sprechen.
Da sagte Swetlana Michajlowna: „Viele Finnen sind groß, haben helle
Haut, wie es für die nordischen Völker üblich ist, blaue Augen und
helle Haare. So wie unsere Katjenka hier, sie ist eine wahrhaftige
Finnin!“
War das ein Triumph! Stolz schaute ich in die Runde und sonnte mich in
den begeisterten und bewundernden Blicken meiner Klassenkameraden. Ha,
habt ihr das gehört? Keiner sieht finnischer aus als ich!
Dass ich eigentlich meinem deutschen Vater ähnlich sehe, behielt ich
vorsichtshalber für mich. Ab diesem Zeitpunkt wurde ich offiziell in
die finnische Gemeinschaft aufgenommen. Kaum hatte ich mich jedoch an
meine neue Rolle gewöhnt, ereilte mich eine Neuigkeit wie ein Blitz
aus heiterem Himmel: Wir ziehen nach Deutschland!
Tausende Gedanken stauten sich in meinem Kopf. Wa- rum denn nach
Deutschland? Was soll ich da machen? Ich spreche doch kaum Deutsch.
Meine Heimat ist Russland, meine Muttersprache ist Russisch, meine
Seele ist russisch! Der Gedanke an die Trennung von meinem geliebten
Heimatland brachte mich schier um den Verstand. Plötzlich er- schien
mir alles Russische so vertraut und so geliebt. Doch die Antwort
meines Vaters war klar und ernüchternd: Wir sind Deutsche, und wir
gehören nach Deutschland.
Auch wenn meine Eltern, Freunde und Verwandte ein- stimmig beteuerten,
dass das Leben in Deutschland viel besser sei, fand ich keine Ruhe.
Geht es einem Fisch, der aus dem Fluss gezogen und auf die schönste
Wiese geworfen wird, etwa unter den duftenden Blumen besser als in
seinem kalten Gewässer? Nie zuvor hatte ich mich so sehr als Russin
gefühlt. Russin durch und durch. Ich konnte nichts Deutsches an mir
erkennen und hasste dieses Element sogar, weil es mich nun von meiner
Heimat trennte. Und dann: wieder Pässe, Ausweise, Dokumente, in denen
immer wieder dieses Wort in zwei Sprachen aufflammte: Njemka/Deutsche.
Unsere Reise in die historische Heimat fing gut an. Unser Visum wurde
ab dem 18. August ausgestellt, doch die Tickets haben sie uns für den
17. August verkauft. Ein und dieselbe Agentur wohlgemerkt. Meinem
Vater, der unzählige Fahrten in das weit gelegene St. Petersburg
unternommen hatte und schon am Ende seiner Nerven und Kräfte war, war
das gar nicht aufgefallen. Man verlässt sich manchmal zu sehr auf das
Gute in Menschen.
So wurde uns die Ausreise per Flugzeug verweigert. Wir mussten den
Flughafen verlassen. Doch mein Vater ließ sich nicht unterkriegen! Er
besorgte Zugtickets, und noch am selben Abend verließen wir St.
Petersburg in Richtung Deutschland. Unterwegs wurden wir im Zug
kontrolliert. Sogar mehrmals. An eine Kontrolle kann ich mich
besonders gut erinnern. Es war tiefe Nacht. Die Grenzkontrolleure
kamen in unser Schlafabteil und verlangten die Ausweispapiere. Ich
stellte mich schlafend, kniff die Augen aber so zusammen, dass ich
noch was sehen konnte. Die Kontrolleure blätterten in den Ausweisen
und schauten meinen Eltern misstrauisch ins Gesicht. Dann sagte einer
der Kontrolleure: „Aufwecken!“, und zeigte auf mich und meinen
vierjährigen Bruder. Mein Vater rüttelte vorsichtig an meiner
Schulter. Ich richtete mich auf und tat so, als ob ich gerade erst
aufgewacht wäre.
„Vorname!“, kommandierte der Kontrolleur streng. „Katharina“,
antwortete ich schüchtern. „Nachname!“, herrschte er mich weiter an.
„Martin.“ Meine Stimme wurde ganz heiser.
„Wie heißt dein Vater?“ Er wurde lauter. „Otto Ewaldowitsch ...“ Auch
ich wurde lauter. Meine Eltern wechselten besorgte Blicke. Der
Kontrolleur verglich mein Gesicht mit dem Foto und stellte die letzte
Frage: „Nationalität?“ (Und so etwas fragte er in der tiefsten Nacht
in einem Zug mitten im Nirgendwo ein elfjähriges Kind!) Ich richtete
mich auf und bellte genauso laut wie er:„Njemka!“
Der Kontrolleur schaute mich verwundert an und widmete seine
Aufmerksamkeit meinem kleinen Bruder Daniel. Nachdem er auch von ihm
zufriedenstellende Antworten bekommen hatte (Gott sei Dank ließ er da
die Nationalitätsfrage aus!), gab er meinen Eltern die Ausweise zurück
und sagte: „Ihre Kinder haben aber sehr schöne deutsche Namen!“
Lebensspiel mit allen Sinnen
Der brüllende Motor zerschneidet die Stille. Der Wagen hüpft, als sei
er ein edles Ross. Die kasachische Steppe ertrinkt in Nachtfarben. Als
würden wir durch das All galoppieren ... Wie sehr man seine Augen auch
anstrengt, überall eine große dunkle Leinwand. Die große Satindecke
über uns ist übersät mit glänzenden Diamanten. Beide Giganten, der
Himmel und die Steppe, verschmelzen miteinander. Man kann nicht sagen,
wo der Ursprung des einen und das Ende des anderen verlaufen.
Es duftet betörend nach Heu. Ich atme den Duft mehrmals ein. Schnell,
gierig, als hätte ich noch nie zuvor solch eine Luft gekostet. Als
hätte ich überhaupt noch nie zuvor geatmet. Mir wird schwindlig. Zu
viele Sinneseindrücke für ein Kind. Dunkle Umrisse von Häusern erheben
sich aus der Steppe. Wie eine Oase, die verborgen in der Wüste liegt
und sich einem erschöpften Wanderer offenbart. Das Dorf taucht
plötzlich auf, unerwartet gar. Es verschlingt uns, führt unseren Wagen
über die staubige Straße an schlafenden Häusern vorbei. Ich nehme
wahr, wie meine Eltern unruhig werden. Der Wagen hält an einem Haus,
das in ein warmes Licht gehüllt ist. Die Tür des Wagens wird plötzlich
aufgerissen. Zwei Arme packen mich. Ich höre die Stimme meiner älteren
Cousine Tanja: „Katjuschka, bist du groß geworden!“
Menschen, Stimmen, Tränen, Gelächter. Ein lang ersehntes Wiedersehen.
Tanja hebt mich aus dem Auto, so selbstverständlich und mit so einer
Leichtigkeit! Dabei ist sie nur paar Jahre älter als ich, selbst noch
ein Kind. Umarmungen, Küsse, noch mehr Umarmungen. Es gibt so viel
nachzuholen. Essen, Trinken, Anstoßen, Aufatmen. Endlich angekommen.
Der Tisch bricht unter der Last der Speisen und Getränke zusammen. Ist
das der Hunger oder ist das Essen wirklich so himmlisch? Ich mampfe
und schmatze, meine Geschmacksknospen drohen zu explodieren, sowie
mein Bauch übrigens auch. Gespräche, Anekdoten, Witze, Gitarrenspiel.
Mein Vater und meine Onkel singen. Meine Mutter und meine Tanten
weinen. Wir Kinder finden das komisch und sogar peinlich. Manche
Lieder sind doch gar nicht traurig! Es ist uns ein Rätsel, warum die
Erwachsenen beim Singen weinen müssen.
Während unseres Besuchs in Kamenka, dem Heimatdorf meines Vaters,
bleiben wir bei Oma Linda. Sie lebt mit Tante Lida und ihrer Familie
in einem schönen Haus mit einem Apfelbaum im Hof. Tante Lida lacht
genauso herzlich und sanft wie Oma. Nur weiß sie das nicht. So etwas
fällt einem selbst nicht auf. Wie oft übersehen wir die Ähnlichkeit
mit unseren Eltern oder Großeltern. Oder wollen sie nicht wahr haben.
Manchmal suchen wir auch vergeblich danach, aber die Gene machen
ohnehin das, was sie wollen. Darauf haben wir keinen Einfluss. So, wie
Gott und die Natur entscheiden, so müssen wir das hinnehmen.
Wahrscheinlich wird die kleine Irene, Tante Lidas Tochter, auch so
lachen, wenn sie groß ist. Wer kann das schon vorhersehen, wie die
Kinder später werden, wem sie ähnlicher sehen? Onkel Waldemar lacht
auch herzlich. Aber er hat eine tiefe und raue Stimme, die immer
streng klingt. Sogar, wenn er Scherze macht und gut drauf ist. Wenn
ich meinem Cousin Vitja zuhöre, kann ich mir fast nicht vorstellen,
dass er auch mal so eine tiefe und strenge Stimme haben wird.
Jeden Tag treffen wir neue Leute. Es sind Verwandte, Bekannte,
Nachbarn, Freunde, Vaters Klassenkameraden. Wir ziehen von Haus zu
Haus, manchmal kommen die Leute auch zu Oma, um uns zu sehen. Ich
frage mich langsam, wie so viele Menschen in so ein kleines Dorf
passen können! Meine Verwandten und die restlichen Dorfbewohner üben
auf mich eine unerklärliche Faszination aus. Ich beobachte sie, achte
auf jede ihrer Bewegungen, lausche ihren Gesprächen. Und diese
Gespräche wühlen mich noch mehr auf.
Still sitze ich an der Tür, ganz klein und unbemerkt. Ich versuche,
kaum zu atmen, damit ich nicht zu laut bin, damit sie mich nicht
entdecken. Tante Lida und Oma stehen in der Küche und reden. Ihre
Worte fließen, schlagen Purzelbäume, schmiegen sich um meine Ohren,
prallen aber an meinem Gehirn ab. Denn mein Gehirn kennt keine andere
Sprache als die russische. Sie ist mir vertraut, sie ergibt einen
Sinn, beinhaltet eine gewisse Logik, sie ist meine Muttersprache. Doch
die Muttersprache meiner Oma ist nicht Russisch. Wie eine Melodie
fließt ihr Deutsch, versetzt mit ukrainischen Wörtern, in meine Ohren
hinein. So sitze ich lange da und sauge die Laute auf. Sie kämpfen
sich weiter vor, verdrängen in meinem Gehirn die russischen Wörter,
ergattern sich ein paar sichere Plätze und brennen sich ein. Dort
bleiben sie viele Jahre liegen. Unbemerkt, unentdeckt, scheinbar
vergessen, aber dennoch vorhanden.
Abends trödeln Kühe durch die Straßen und wirbeln die trockene Erde
auf. Die Kühe klingen wie ein Orchester, finde ich. Laute Glocken
baumeln an ihren dicken Hälsen. Hin und wieder tauschen sie ein paar
Muh-Rufe miteinander aus. Das wird zu meiner Lieblingsbeschäftigung.
Abends in die Steppe hinaus zulaufen und die Kühe zu holen. Ich
wundere mich, dass es hier so wenig Bäume gibt. In Karelien haben wir
so viele davon! Der Norden Russlands ist bekannt für seine dunklen
Nadelwälder. Manchmal fährst du Hunderte Kilometer am Waldrand entlang
und triffst keine Menschenseele. Keine Zivilisation weit und breit.
Bleibst du mit deinem Auto liegen, kann es den sicheren Tod bedeuten.
Mit der Steppe ist es genauso. Nur finde ich den Wald gemütlicher. Er
gibt mir Geborgenheit. Die Steppe macht mir Angst und fasziniert mich
zugleich. Kein Ende in Sicht. Wohin das Auge reicht, nur flaches Land.
Ein Land, das mit einem betörenden Duft getränkt ist. Ich knie nieder
und lege meine Hand auf die Erde. Sie ist warm. Ich will am liebsten
mit ihr verschmelzen, diese Erde ganz fest umarmen.
Meine Trennung von der kasachischen Steppe ist so viele Jahre her.
Aber ich weiß, dass sie mich nicht vergessen hat, so wie auch ich sie
nicht vergessen habe. Manchmal schickt sie mir einen leichten Kuss,
voll gepackt mit diesem betörenden Duft und dieser Wärme. Dieser Kuss
fliegt Tausende Kilometer von Kasachstan nach Deutschland. Er findet
mich und lässt sich sanft auf mir nieder. Doch bei all seiner
Sanftheit erschlägt mich dieser Moment wie ein Blitz. In meinem Kopf
flackern die Erinnerungen auf. Sie tanzen wild, malen Bilder, spielen
Musik ab. Dann verfliegt dieser Erinnerungsmoment. Plötzlich. Obwohl
ich ihn noch festhalten will. So schnell, wie er kommt, ist er auch
schon wieder weg. Die Erinnerungen legen sich schlafen. Decken sich
mit neuen zu und bleiben auf dem tiefsten Grund meines
Unterbewusstseins liegen, bis die kasachische Steppe mir erneut einen
Kuss schickt.
Dieser Besuch in Kasachstan, mit all seinen Düften, Klängen, Farben,
ist meine erste deutsche Erinnerung. Kamenka, ein fernes Dorf in
Kasachstan, das mir bis heute so schmerzlich nahe ist. Kamenka, ein
Wort, das mein Herz immer wieder aufspringen lässt. Mein erster
Kontakt mit einer Welt, die viele Jahre später, im fernen Deutschland,
beinahe mein gesamtes Leben bestimmen wird. Das war nicht nur meine
erste deutsche Erinnerung, sondern meine erste Kindheitserinnerung
überhaupt. Dass ausgerechnet diese mit meiner deutschen Herkunft,
meinen deutschen Wurzeln, der deutschen Sprache und so vielen
Elementen meines russland-deutschen Volkes verknüpft war ... Dabei hat
sich Gott etwas gedacht. Schon damals ließ er all das in mein
Unterbewusstsein einfließen, wohl wissend, welch einen Weg ich später
gehen werde. Die ersten Zeilen für dieses Lebensszenario wurden in
einem fernen und mir bis dahin unbekannten Land geschrieben.
Kamenka, ein deutsches Dorf in Kasachstan. Ein Dorf von deportierten
Deutschen und Polen aus der Ukraine. Welch ein harter Weg die Menschen
dorthin geführt hatte, sollte ich erst viele Jahre später erfahren.
Aber damals war davon nichts zu spüren. Die Menschen, die dort lebten,
haben ihr Dorf geliebt. So aufrichtig, so innig, mit solch einer
Hingabe, dass man nicht anders konnte, als sich auch zu verlieben.
Meine Mutter und ich, die nur Gäste in Kamenka waren, haben beide ein
Stück unseres Herzens dort gelassen.
Ich fragte mich so oft, wie mein Vater dieses kleine Paradies auf
Erden verlassen konnte. Doch mein Vater fand in Karelien eine neue
Heimat, und von dort wollte er auch nicht mehr fort. Kein Wunder,
rechtfertigte ich ihn vor mir selbst. Karelien lässt niemanden mehr
los. Die dunklen Wälder, die tiefen Seen, die majestätischen Felsen.
Und da waren ja auch noch wir. Seine Familie. „Viele Wege musst
ich gehn, viel im Leben überstehn, doch nichts Schöneres gesehn als
mein Karelien ...“
Mein Vater singt dieses Lied über unsere Heimat, seit ich denken kann.
Als Kind lauschte ich mit angehaltenem Atem, und die Zeilen legten
sich wie ein Tattoo auf meine Seele. Für mich gibt es keinen schöneren
Ort auf dieser Erde. Man lässt sein Herz immer dort, wo man geboren
und aufgewachsen ist. Warum sollte man sich woanders ein neues Zuhause
suchen? Fragen, die mich ständig beschäftigten. Ach, solche
Entscheidungen will ich nie treffen müssen, dachte ich damals fest
entschlossen. Kein Ort auf dieser Welt würde es je schaffen, Kareliens
Platz in meinem Herzen einzunehmen. Es gehört ganz allein meiner
kleinen Heimat! Dass das Herz sich auch teilen kann, dass es viel mehr
Platz bietet, als meine kindliche Vorstellung es zuließ, sollte ich
Jahre später erfahren.
Die Kirchenglocken zerschneiden die Stille des Sonntagmorgens. Der
goldene Baum vor meinem Fester bewegt langsam und elegant seine Äste,
wie eine Prima-Ballerina auf der Bühne des Bolschoi Theaters. Unten
höre ich die Stimmen meiner Kinder. Ihre Worte fliegen hoch,
durchqueren die warmen Räume und schmiegen sich um meine Ohren. Sie
prallt schon längst nicht mehr ab, die deutsche Sprache. Ich öffne das
Fenster und atme den herbstlichen Duft ein. Auf dem Feld hinter dem
Wäldchen fährt ein Traktor die Ernte ein. Es duftet nach Heu. Ein
sanfter Kuss aus Kasachstan legt sich auf meine Wange. Ich bekomme
Sehnsucht. Nach Kasachstan, nach Kamenka, nach meiner Familie.
Ich hatte damals recht: Meine Cousine Irene lacht nun wie meine Tante
Lida. Einmal höre ich auch Tante Sina lachen, Vaters ältere Schwester,
und bin amüsiert. Sie lachen alle gleich. Wie unsere Oma Linda. Was
gäbe ich dafür, sie noch einmal lachen zu hören! Meine Oma ist nicht
mehr da. Ihr Lachen aber hat sie weitergegeben. Und so fühle ich mich
ihr immer nahe, wenn ich ihr Lachen in meinen Tanten oder Cousinen
erkenne. Ich lache nicht so. Ich lache wie meine Mutter, die ihr
Lachen von meiner russischen Babuschka geerbt hat.
Menschen, Stimmen, Tränen, Gelächter. Wiedersehen. Schon lange trennen
uns keine Tausende von Kilometern mehr. Wir sind alle vereint. Von
allen Seiten ertönen Oma und Opa Rufe, nur sind es nun unsere Eltern,
die so genannt werden. Meine zahlreichen Cousins und Cousinen sind,
genauso wie ich, mittlerweile zu langweiligen Erwachsenen geworden,
die ihre Kinder maß regeln und ihnen strenge Blicke zuwerfen, wenn sie
sich benehmen sollen.
Umarmungen, Küsse, noch mehr Umarmungen. Lachende und erstaunte
Ausrufe: „Na, kennst du mich noch?“ – „So was! Wer ist denn das?! Du
bist ja groß geworden!“
Es gibt so viel nachzuholen. Wir alle haben uns schon lange nicht mehr
gesehen. Dabei trennen uns teilweise nur wenige Kilometer. „Würden
unsere Kinder sich auf der Straße begegnen, wüssten sie wahrscheinlich
nicht einmal, dass sie verwandt sind!“, scherzen wir, sind aber in
Wirklichkeit traurig über diese Tatsache. Als wir so weit entfernt
voneinander waren, waren wir uns da nicht näher? Jetzt, wo wir so nah
beieinander sind, sind wir uns nicht alle fern und einander sogar
schon fremd geworden? Doch wer hat heutzutage schon Zeit?
Essen, Trinken, Anstoßen, Aufatmen. Endlich alle zusammen. Gespräche,
Anekdoten, Witze, Gitarrenspiel. Mein Vater und seine Brüder singen.
Meine Mutter und meine Tanten weinen. Heute weinen wir mittlerweile
auch mit. Und bestimmt finden das unsere Kinder jetzt auch peinlich.
Das liegt wohl in der Familie.
Ich schaue in die Runde und spüre, dass wir alle gerade woanders sind.
Aber nicht hier, in diesem Raum. Während Gitarrenspiel die Luft
zerreißt, fliegt jeder in seinen Gedanken an den Ort, wo sein Herz
geblieben ist. „Viele Wege musst ich gehn, viel im Leben überstehn, doch nichts
Schöneres gesehn ...“, singt mein Vater.
So geht es uns allen. Jeder hat diesen besonderen Ort. Doch heute
liegen die meisten dieser Orte in der Ferne, in der Fremde. Unsere
Heimat ist nun hier. Hier, wo wir uns dennoch manchmal immer noch
fremd fühlen. Meistens dann, wenn die alte Heimat uns einen Kuss, voll
gepackt mit Düften und Erinnerungen, schickt. Alte Heimat, neue
Heimat. Ach, das sind doch alles nur Begriffe. Damit wir uns besser
fühlen oder rechtfertigen können.
Das Auto fliegt so über die Autobahn, dass man zwischenzeitlich das
Gefühl bekommt, man würde schweben. An der Autobahn entlang laufen uns
die Lichter der unbekannten Städte hinterher. Wir fahren durch die
Dörfer und erreichen endlich unser Zuhause. Ich steige aus, und bevor
ich meine schlafenden Kinder aus dem Auto holen kann, überrollt mich
plötzlich ein komisches Gefühl. Ich schließe die Augen und atme tief
ein. Langsam und schwer strömt die Luft in meine Lungen. Der deutsche
Herbst ist so unberechenbar. Mal regnet es in Strömen, als wolle der
Himmel uns ertränken. Mal brennt die Sonne herunter, als hätte sie die
Jahreszeit verwechselt. Als ich mein Haus so in der Dunkelheit liegen
sehe, muss ich schmunzeln. Hätte mir vor zwanzig Jahren jemand gesagt,
dass ich Deutschland einst mein Zuhause nennen werde, dann hätte ich
demjenigen einen Vogel gezeigt. Von dem Gedanken, dieses Land einst
meine Heimat nennen zu können, ganz abgesehen.
Die Kälte lässt ihre eisigen Finger unter meine Jacke fahren. Eine
Umarmung aus Karelien. Der goldene Baum raschelt kaum hörbar im
herbstlichen Wind. Es duftet nach Pilzen, Beeren, Holz, Rauch,
feuchtem Heu, nach einer von den Sinnen schon fast vergessenen Heimat.
Ein interessantes Lebensszenario, denke ich. Aber Gott hat sich
bestimmt etwas dabei gedacht, als er daran schrieb. Es gibt keinen
besseren Regisseur als ihn, da bin ich mir sicher. Jedoch liegt es
allein in unserer Hand, wie wir die uns zugeteilte Rolle auf der Bühne
des Lebens spielen.
Die Heimat meiner ersten Kindheitserinnerungen ist ein
Vernichtungslager für Deutschstämmige im ehemaligen Jugoslawien. Ich
heiße Rosa Speidel und bin 1943 im damals zu Ungarn gehörenden
heutigen Nordwest-Serbien geboren. Meine Ahnen, aus den Nord-Vogesen
stammend, fuhren Mitte des 18. Jhd. auf der Donau von Ulm aus
nach Südosten, damals Österreich-Ungarn. Ab 1945 wurden im
kommunistischen Tito-Jugoslawien alle Deutschstämmigen enteignet, für
rechtlos erklärt, vertrieben oder in Konzentrationslagern brutal
ermordet. Einige Wochen zuvor waren alle arbeitsfähigen Deutschen
zwischen sechzehn/achtzehn und fünfundvierzig Jahren in Viehwagons
gepfercht und unter menschenunwürdigen Bedingungen in die Sowjetunion
zur Zwangsarbeit deportiert worden. Meine Mutter arbeitete fünf Jahre
lang in einem Kohlebergwerk im Donezbecken in der heutigen
Südost-Ukraine (derzeit umkämpftes Gebiet zwischen Russland und der
Ukraine). Mein Vater hatte sich für die ungarische Armee entschieden,
weil unsere Familien sich von Anfang an von Hitler-Deutschland
distanziert hatten. Beim Abschied 1944 soll er zu mir gesagt haben:
„Kind, du wirst deinen Vater nie mehr wiedersehen.“ Er hatte Recht
behalten.
Nach Kriegsende wurde das Gebiet, auf dem wir lebten, Jugoslawien
zugesprochen. Ich überlebte das jugoslawische Vernichtungslager nur
deshalb, weil meine Oma Eva, Mutter meiner Mutter, sich als meine
Mutter ausgegeben hatte. Andernfalls wäre ich entweder verhungert oder
als jugoslawisches Waisenkind mit serbischem Namen in einem Kinderheim
aufgewachsen, ohne jemals meine wahre Identität zu erfahren.
Meine Erinnerungen aus den Jahren 1945/46 sind punktuell, jedoch so
präzise, dass gravierende Ereignisse als scharfe Bilder und kurze
Szenen unauslöschlich in meinem Gedächtnis, vor allem aber auf der
Gefühlsebene haften. Unsere erste Behausung im Vernichtungslager war
ein dunkler, schmaler Raum ohne Möbel mit vereisten Wänden. Auf dem
Fußboden lag eine dünne Schicht Stroh, die sich immer feucht und kalt
anfühlte. Die Eingangstüre, ursprünglich mit Glasfüllung, und das
Fenster waren mit Latten und Brettern vernagelt. An Tür und Rahmen
steckten anstelle des ausgeschlagenen Schlosses zwei krumme Nägel; die
Tür wurde mit einer Schnur notdürftig „geschlossen“. Wenn die
Partisanen nachts hereinstürmten, kündigte sich das mit einem
kräftigen Stiefeltritt gegen das Türblatt an. Dieses Geräusch vergesse
ich nicht. Eine Stimme schrie: „Stoj!“, und wir beeilten uns, so
aufrecht wie möglich zu stehen. Ich zitterte. Oma Eva raffte mich in
die Falten ihres Rockes und hielt mir den Mund zu, weil ich mit den
Frauen mitschrie, die von den dunklen Gestalten herausgeholt wurden.
Ich spüre noch heute die Öffnung des Gewehrlaufes schussbereit auf
meiner Stirn. Dieses Loch verfolgte mich jahrzehntelang. Im Traum
wurde es größer und größer, meine Angst schwoll zur Panik, bis ich im
Sog dieses dunklen Loches aufwachte. Manchmal bildete ich mir ein,
getroffen worden zu sein, und glaubte für Sekundenbruchteile, mein
Kopf sei nicht mehr da. Ich sah meinen eigenen kopflosen Hals. Ich sah
so aus, wie die Männer, denen die Partisanen mit dem Gewehrkolben den
Schädel zertrümmert hatten. Bereits damals entwickelte mein Instinkt
einen Ausgleich zur unerträglichen Realität. Wenn ich große Schmerzen
ertragen musste, wurde ich ohnmächtig und spürte gar nichts mehr. Oder
aber ich begann zu fliegen. Ich sah die Erde aus der Vogelperspektive.
Auch hier kann ich mich an Details erinnern. Die Gefahr lag unter mir,
die Partisanen waren ganz klein, ihre Kugeln erreichten mich nicht.
Ich folgte einem Lichtstrahl, der aus einem hellen, warmen Kern kam.
Dort wollte ich hin. Ich wachte jedoch immer vorher auf. Das Gefühl
und der Wunsch, fliegen zu können, wurden so realistisch, dass ich bei
Tag meine Arme ausbreitete und immerzu hochsprang, wie ich es im Traum
tat. Ich hob aber nicht ab und sehnte mich danach einzuschlafen, was
natürlich auch nicht funktionierte.
Die Lagerverpflegung für Kinder bestand aus zwei Kellen Wassersuppe
ohne Salz mit kleinen dunklen Punkten (Popelsuppe). Vermutlich waren
es winzige Käfer. Hin und wieder bekamen wir einen undefinierbaren
Brei und ein Stückchen Steinbrot, das nach nichts schmeckte und erst
hinuntergeschluckt werden konnte, wenn man es eine Weile im Mund
aufweichen ließ. Es gab auch tagelang gar nichts. Wir Kinder suchten
in allen Ecken nach Essbarem, selbst in Abfallgruben.
Im Winter 1945/46 hatte das große Sterben begonnen: Typhus, Ruhr,
Malaria, Unterernährung, Ungezieferplage aber auch Folter und
Vergewaltigung. Die Verantwortlichen wollten den Tod aller
eingesperrten Donauschwaben ganz bewusst, und zwar so schnell wie
möglich. Der Schnee war unser Trink- und Waschwasser. Es gab weder
Öfen noch Heizmaterial. Wir bekamen kein frisches Stroh, hausten wie
verwahrloste Tiere in stinkenden Räumen, da viele es nicht mehr
rechtzeitig nach draußen schafften. Wir lagen immer dicht
nebeneinander, um uns gegenseitig zu wärmen. In der hinteren Reihe
fünf oder sechs Körper und in der vorderen ebenfalls. Wir Kinder
krochen irgendwo dazwischen unter. Wer morgens tot war, wurde hinaus
in den offenen Korridor gezerrt. Für mich waren alle fremd. Socken,
Strümpfe oder gar Schuhe besaß niemand. Unsere Füße steckten zwischen
Fußlappen und Stroh in derben selbstgeschnitzten Holzschuhen
(Klumpen). Das Stroh wurde steif, wenn man die Klumpen auszog. Wer
keine Klumpen besaß, konnte im Winter nicht vor die Tür. Tagsüber war
ich die meiste Zeit alleine, oder ich schlich durch den Hinterhof in
ein anderes Haus, in dem andere Kinder ebenfalls alleine waren. Die
noch gehfähigen Erwachsenen mussten arbeiten, oder sie schlichen an
den Lagerwachen vorbei hinaus, um auf den umliegenden Höfen oder in
der einige Kilometer entfernten Provinzhauptstadt zu betteln. Es kam
oft vor, dass Mütter und Großmütter mehrere Tage außerhalb des Lagers
verbrachten. Manche kehrten gar nicht mehr zurück, weil sie erschossen
oder erschlagen worden waren.
Nachts trippelten Ratten auf der Suche nach Nahrung über unsere
Körper. Wer sich länger nicht bewegte, wurde angeknabbert. Läuse,
Flöhe, Wanzen bissen sich an uns fest. Ich kann mich an Pusteln am
ganzen Körper erinnern, die schrecklich juckten und bluteten, weil ich
ständig kratzte. Mein Haar war grau und verfilzt. Oma schnitt mit
einer stumpfen Schere alles von meinem Kopf, was nach Haaren aussah.
Es muss die Zeit der Typhus-Epidemie gewesen sein, denn im offenen
Korridor vor den Zimmern stapelten sich Leichen. Manche waren nackt,
manche in schmutzige Flickendecken eingerollt. Tote brauchten keine
Kleidung mehr und auch keine guten Decken.
In den Hinterhöfen vieler Häuser befanden sich Sterbeschuppen,
ehemalige Geräteschuppen, in die man die Leute hineinlegte, für die
sich ein Platz in den Stuben nicht mehr lohnte. Dort lagen alle auf
gefrorener Erde, Tote und noch Lebende. Ab und zu sammelten Männer die
steifen Körper ein. Damals waren für mich Tod und Verwesung ein
natürlicher Prozess im täglichen Dasein. Ein anderes Leben kannte ich
nicht.
Eines Tages schleppten zwei Männer meine Tante Resi in den
Sterbeschuppen. Jemand hatte ihr die Jacke gestohlen. Tante Resi war
nur noch in eine gestreifte Lumpendecke eingewickelt, so habe ich sie
in Erinnerung. Sie war schon vorher sehr krank gewesen, lag schlafend
in unserer Stube. Wie man mir später erzählte, war sie eine Nachbarin
von zu Hause, die mich bereits als Baby beaufsichtigt hatte. Sie war
auch im Vernichtungslager diejenige gewesen, die mir ab und zu Märchen
erzählte, bei der ich mich geborgen fühlte. Ich wollte sie nicht
verlieren. Obwohl niemand von uns in den Sterbeschuppen durfte, saß
ich stundenlang neben ihr auf der eisigen Erde und wartete, bis sie
die Augen öffnete. Wenn sie mich erkannte, sagte sie jedes Mal: „Geh
weg! Du darfst nicht hier sein, hörst du, geh jetzt!“ Ich konnte nicht
verstehen, warum sie mich wegschickte, und ging erst bei Dunkelheit
zurück in unser Gemäuer.
Noch heute spüre ich den Schmerz, als fremde Männer meine Tante Resi
aus dem Schuppen schleppten. Lange Zeit danach, saß ich immer wieder
an der Hauswand gegenüber und starrte zur Scheunentür, obwohl ich
wusste, dass Tante Resi nicht herauskommen konnte, weil sie gar nicht
mehr drin war. Diese Trauer um Tante Resi war die schmerzlichste Zeit
meiner Erinnerungen an das Vernichtungslager. Alle anderen
Grausamkeiten, wie zerschlagene Köpfe, blutende Menschen, verwesende
Körper, das krabbelnde Kleingetier, die Misshandlungen, die mein
Großvater an mir wie eine zyklische Züchtigung vollzogen hatte,
speicherte ich als „normalen Lageralltag“ ab. Aber diesen Verlust, das
Gefühl des Völlig-alleine-gelassen-Seins, brannte sich in meinem
Unterbewusstsein ein. Obwohl meine beiden Großmütter, Eva und Anna,
immer wieder da waren, bedeutete mir Tante Resi am meisten. Sie war
eine der wenigen innigen Bezugspersonen meiner frühesten Kindheit.
Als Oma Eva tagelang nicht vom Betteln zurückkam, dachten alle im
Haus, sie sei nicht mehr am Leben. Eine alte Frau schrie mich an, ich
solle verschwinden, packte mir etwas in meinen Wollumhang, band mir
das Bündel auf den Rücken und schickte mich auf die Straße hinaus. Ich
ging, weil ich wusste, dass Kinder ohne Angehörige aus den Häusern
müssen. Es dämmerte, wurde kühl, ich wollte ein Nachtquartier in einer
Ruine am Ortsrand suchen. Unterwegs dorthin begegnete ich Oma Anna,
die gerade vom Arbeitseinsatz kam. Sie brachte mich zurück, obwohl ich
es nicht wollte. In der Zwischenzeit war aber Oma Eva wieder da. Sie
hatte schrecklich geweint, damals konnte ich nicht begreifen, warum.
Einerseits war ich froh, wieder bei Eva zu sein, hätte mich aber auch
mit einem Platz in den Ruinen in der Nähe des Friedhofs abgefunden.
Da alle Häuser mit den Grundstücksrückseiten durch Obst- und
Gemüsegärten miteinander verbunden waren, hatten wir trotz strenger
Ausgangssperren einen recht großen Aktionsradius. Wir Kinder schlichen
durch die Gärten zu den Ruinen am Ortsende bis zum Friedhof. Dort war
immer etwas los. So makaber dies heute klingen mag, unsere Kinderstube
war nun mal das Vernichtungslager, Tote gehörten in unserem Lagerleben
zur Normalität. Wir versteckten uns im Gebüsch oberhalb der
Massengräber und sahen stundenlang zu, wie die Leichen in die Gruben
geworfen wurden. Ich kann mich auch noch an Männer erinnern, die nackt
und völlig abgemagert ein Loch graben mussten und dann
hineingeschossen wurden. Einmal rutschte ein Partisan in das Loch,
weil er mit dem Stiefel einen Erschossenen hineinstoßen wollte. Ich
lachte.
Unsere Haut war grau mit Rissen in der Kruste. Ich erinnere mich, dass
ich über meine rosa Haut staunte, nachdem ich ein graues Plättchen an
meinem Arm weggekratzt hatte. In meiner Erinnerung ist fast alles aus
jener Zeit grauschwarz. Farben kamen erst, nachdem Milizionäre in
dunkelblauer Uniform die Aufsicht im Lager übernommen hatten, und
niemand mehr willkürlich gequält oder erschossen wurde.
Im Vernichtungslager hatte ich gelernt, mich unsichtbar zu machen, zu
schweigen, selbst wenn mir Schmerzen zugefügt wurden. Ich hatte
gelernt, mich über niemanden zu beklagen, mir selbst zu helfen, so gut
ich es konnte. Denn ich war damals fest davon überzeugt, dass Deutsche
minderwertig sind, besonders ich selbst.
Als die sogenannten Internierungslager für arbeitsunfähige Deutsche
auf Druck der Alliierten aufgelöst werden mussten, bot man uns Ruinen
als Wohnraum an. Wir hausten zuerst in der Nähe der Provinzhauptstadt
in einem zerschossenen Raum, in dessen Wänden noch Patronen steckten,
dann in einem leerstehenden Schafstall an der Donau. Es regnete durch
das Dach, der Wind pfiff durch die Lehmwände.
Nachdem ich schulpflichtig geworden war, zogen wir in unseren
„Heimatort“, in dem wir verhasste Fremde waren. Auch hier verwies man
uns in Häuserruinen. Nachdem wir einen oder zwei Räume in einer Ruine
bewohnbar gemacht hatten, mussten wir wieder ausziehen. Man holte uns
nachts das wenige Heizmaterial aus dem Schuppen, die Hühner aus dem
Stall, ihre Eier aus den Nestern. Nur ein bissiger Hund rettete unsere
Habe, aber auch ihn hatte man vergiften wollen. Dank seiner robusten
Kondition, überlebte er.
Die meisten Lehrekräfte in der Schule verteilten täglich Kollektiv-
und Einzelschläge, deutsche Kinder erhielten mehr davon. Ich wurde
verspottet, sobald ich meinen richtigen Namen nannte. Außerhalb meiner
Klasse erfand ich oft einen serbischen Namen, um nicht angefeindet,
geschlagen oder angespuckt zu werden. Ich weiß noch heute, wie sich
fremde Spucke im Gesicht anfühlt. Die Verachtung jener Zeit steckt
tief.
Als ich knapp neun Jahre alt war, kam meine biologische Mutter aus
Russland über Deutschland nach Jugoslawien zurück. Ich war ihr fremd,
und sie war und blieb für mich eine fremde Frau. Ich bekam einen neuen
Nachnamen. Bisher hatte ich ja den Familiennamen meiner Großeltern
mütterlicherseits. Als ich drei Jahren später mit meiner Mutter nach
Deutschland musste, und meine Oma Eva in Jugoslawien zurückblieb,
brach in mir eine alte, tiefe Wunde auf, die nach Tante Resis Tod
nicht wirklich verheilt war.
In Deutschland lebten meine Mutter und ich anfangs wieder in
Flüchtlings- und Durchgangslagern, allerdings schlief ich zum ersten
Mal in einem eigenen Bett, wenn auch als Stockbett in einem
Barackenraum zusammen mit vierundzwanzig anderen Vertriebenen. Die
Räume wurden mit kleinen Kohleöfen beheizt. Um den Ofen herum warm, an
den Wänden Raureif. Ich verstand die Sprache der Deutschen nicht, und
meine deutsche Sprache passte nicht nach Deutschland. Ich redete nur,
wenn ich unbedingt musste. Wir standen in langen Schlangen zum
Essenfassen, standen in Schlangen vor übelriechenden Waschraumbaracken
und stinkenden Latrinen. Die Durchgangslagerschulen mit ständig
wechselnden Klassenräumen, Lehrern und Mitschülern, waren auch keine
Orte zum Wohlfühlen. Ein Versuch, mich in eine reguläre deutsche
Schule zu integrieren, scheiterte kläglich. Ich verstand kein
Schwäbisch, wünschte mir sehnlichst, wieder nach Jugoslawien
zurückkehren zu dürfen. Auch wenn mich dort Hohn und Spott erwartet
hätte. In Deutschland war ich letztendlich auch nur ein
Flüchtlingskind, eine Gebrandmarkte, die man verachtete. Außerdem
funktionierte das Zusammenleben mit meiner Mutter nicht. Sie hatte mir
bereits in den ersten Monaten unserer Deutschland-Lagerzeit
mitgeteilt, dass sie mir nicht helfen könne, ich müsse ab jetzt selber
zusehen, wie ich vorwärtskäme.
Letztendlich bekam ich über eine kirchliche Organisation einen Platz
in einem Kinderheim, in dem Kinder aus Jugoslawien umgeschult wurden -
Integration würde man das heute nennen. Die Zeit dort war hart. Wir
mussten regelmäßig auf den Feldern oder in den Ställen, in Küche,
Waschküche oder beim Putzen mitarbeiten. Parallel wurde uns Disziplin
und Gottesfürchtigkeit eingehämmert. Wir mussten nicht nur sonntags,
sondern zuweilen auch unter der Woche sehr früh aufstehen, ohne
Frühstück in Zweierreihen in die Dorfkirche zum Gottesdienst gehen,
bei dem einige (auch ich) einschliefen, was zusätzlichen Arbeitsdienst
zur Folge hatte. Unser unmittelbares Umfeld hatte keinerlei
Verständnis für vom Krieg traumatisierte Kinder. Ich arbeitete mich
pragmatisch durch alle Widrigkeiten hindurch. Strafen und Züchtigungen
war ich gewohnt, körperliche Arbeit auch. Im Schulunterricht hatte die
deutsche Sprache absolute Priorität, in meinem Kopf ebenfalls. Ich
schrieb auf der Toilette kleine Merkzettel auf die
Zeitungspapierränder des damals üblichen „Klopapiers“. Diese
Spickzettel begleiteten mich während meines Arbeitsdienstes in meiner
Schürzentasche. Alles in allem war jene Zeit im Kinderheim das Beste,
was mir damals in Deutschland hatte passieren können.
Nachdem ich aus dem Kinderheim zu meiner Mutter zurückgekehrt war,
forderte sie nach und nach widerspruchslosen Gehorsam. Wir wohnten in
einer Kleinstadt am Rande der Schwäbischen Alb in einem winzigen
Zimmer, das Wasser für Suppe und Tee mussten wir in der Waschküche
holen, dort konnten wir uns auch waschen, im Treppenhaus befand sich
ein Plumpsklo für alle Bewohner des Obergeschosses (etwa zehn
Personen).
In der neuen Schule verstand ich Lehrer und Kinder nur teilweise. Im
Kinderheim hatte ich hochdeutsch gelernt, die Lehrkräfte dort sprachen
langsam. Sie gingen auf uns ein. Hier war alles ganz anders.
Wochenlang sagte ich gar nichts, was meinen ersten Klassenlehrer dazu
verleitete, mich zum Gespött der Klasse zu machen, mit den Wörtern
„taubstumm“ und „staubdumm“. Ich kannte die Wörter nicht. Das
Gelächter der Klasse blendete ich aus. Insgeheim trauerte ich der Zeit
im Kinderheim nach. Auch wenn es dort keineswegs angenehm gewesen war,
immerhin hatte ich so etwas wie ein Zuhause gehabt, einen Tagesablauf,
mit dem ich mich identifizieren konnte. Ich wurde gebraucht, wenn ich
gehorchte, gehörte dazu, wenn ich anderen half.
Nach einigen Wochen bekamen wir einen anderen Klassenlehrer. Und der
beurteilte mich nicht nach meinem Schweigen, sondern nach meinen
Leistungen in sprachunabhängigen Fächern. Ihm verdanke ich den
nächsten großen Schritt zu meiner Integration. Er schlug mir vor, ich
solle von meinem Taschengeld ein dickes Schreibheft kaufen, jeden Tag
einen Kurztext hineinschreiben, dann werde er die Texte korrigieren.
Ich wusste nicht, was Taschengeld bedeutete, weil ich immer alles, was
ich von Verwandten geschenkt bekommen hatte, bei meiner Mutter
abliefern musste. Im Schreibwarenladen gab es keine dicken Hefte, nur
dicke Schreibbücher. So ein Buch kostete vier Mark. Fast sechs Kilo
Brot, hätten wir dafür kaufen können. Obwohl meine Mutter meinte, es
sei rausgeschmissenes Geld, gab sie mir die vier Mark. Ich begann zu
schreiben, jeden Tag eine, manchmal auch zwei, drei Seiten voll. Bevor
ich jedoch zu schreiben beginnen konnte, musste ich ein Thema, einen
Gegenstand, ein Ereignis finden, dann nach Worten suchen, um das
Gefundene zu beschreiben, und zwar in richtigem Deutsch: Grammatik,
Orthografie, Interpunktion und die richtigen Zeiten verwenden.
Was damals in unserem kleinen Dachzimmer beim Blick durch das noch
kleinere Gaubenfenster begonnen hatte, hörte nicht mehr auf. Bereits
ein Jahr später schrieb ich Lyrik, Tagebuchgeschichten und selbst
ausgedachte kurze Erzähltexte. Bei meinem Lehrer spürte ich zum ersten
Mal so etwas wie Respekt und Anerkennung. Hier war ein Mensch, der
wirklich mich meinte - mich, so wie ich war. Ich aber wollte so sein,
so reden, wie die anderen. Ich hörte genau zu, wie meine Mitschüler
mit dem Dialekt umgingen, kaufte ein Büchlein von Josef Eberle, alias
Sebastian Blau, den ich zunächst auch nicht verstand, aber ich übte
schwäbisch. Und ich übte weiter hochdeutsch. Für mich waren das zwei
neue Sprachen und der Schlüssel zum Weiterkommen. Ich wollte hinein in
dieses neue Leben in Deutschland mit den verschiedenen Sprachen. Noch
heute wechsle ich meine Sprachebene je nach Gesprächspartner. Wenn
mich jemand auf Hochdeutsch anspricht, antworte ich instinktiv auf
Hochdeutsch. Redet jemand schwäbisch, schalte ich ebenfalls auf
Schwäbisch um.
Als ich knapp vierzehn Jahre alt war, ging meine Mutter mit mir zur
Berufsberatung. Hinter dem Schreibtisch saß eine ältere Dame mit
leicht ergrautem Haar und ausdruckslosem Gesicht. Sie schaute mich nur
kurz an, redete aber ausschließlich mit meiner Mutter. Unter anderem
meinte sie: „Schicken sie ihre Tochter doch in die Fabrik zum
Geldverdienen, das Geld können Sie als Kriegerwitwe sicher gut
gebrauchen. Außerdem wird das Mädel sowieso heiraten und Kinder
kriegen, eine Berufsausbildung wäre rausgeschmissenes Geld. Und eine
Prüfung zur schulischen Weiterbildung würde sie mit diesen
Deutschkenntnissen auf keinen Fall bestehen.“
Die Dame hatte mein Zeugnis mit einer Zwei in Deutsch und einem
Notendurchschnitt von 2,5 gar nicht angeschaut. Ich selbst hatte kein
Wort gesagt, da ich es gewohnt war, in Gegenwart meiner Mutter zu
schweigen, weil sie immer für mich antwortete. Und meine Mutter sprach
miserabel deutsch. Aber immerhin ermöglichte sie mir eine Ausbildung
zur Fotolaborantin und Fotografin. Mein Lehrherr war ein bekannter
Presse- und Portraitfotograf, künstlerisch-musisch begabt, Mitglied im
Stadtrat unserer Kleinstadt, Mitglied im katholischen Kirchenrat und
im Kirchenchor. Er war außerdem Lehrlingswart des Landkreises, also
Ansprechpartner und Berater für alle Auszubildenden. Aber er vergriff
sich – im wahrsten Sinne des Wortes - an allen seinen jungen
Auszubildenden und Mitarbeiterinnen. Wir waren sechs, zeitweise sieben
weibliche Wesen zwischen vierzehn und zwanzig Jahren. Seine dicken,
Wurschtfinger tasteten täglich beim Guten-Morgen-Ritual in der
Dunkelkammer über unseren Rücken unter den Armen durch bis vor zur
Brust. Beim ersten Mal erstarrte ich zur Salzsäule, traute mich aber
nicht, mich zu wehren, da die anderen auch nichts sagten. Meine
Salzsäulenstarre musste ihm aufgefallen sein, denn er sagte nach ein
paar Tagen zu mir, als wir alleine waren: „Wenn du jemandem davon
erzählst, was glaubst du, wem wird man glauben, einem jungen Ding, das
sich wichtigmachen will oder mir?“
Bei seinem nächsten Angriffsversuch über meinen Rücken, drehte ich
mich um, damit er mir ins Gesicht schauen musste, was ihn nachhaltig
irritierte.
Im ersten Ausbildungsjahr waren alle Auszubildenden Putzfrauen für
Labor, Atelier und Ladengeschäft sowie Zugehhilfen für die Chefin. Ich
musste zwei Jahre lang den Winter über morgens eine halbe Stunde
früher kommen, in drei Kohleöfen Feuer machen, damit es bereits warm
war, wenn die anderen zur Arbeit kamen, denn bei mir brannte das
Feuer, ohne gleichzeitig die Räume einzuräuchern. Die Kohlen musste
ich mit bloßen Händen in die Kohlenschippe füllen, wir hatten nur
kaltes Wasser zum Hände waschen, und der Chef ermahnte mich immer
wieder wegen der Trauerränder unter meinen Fingernägeln. Als ich
einmal anmerkte, dass ich bekanntlich mit den Händen Kohlen schippen
müsse und sich der Dreck mit kaltem Wasser nicht ganz abwaschen ließe,
antwortete er, ich solle nicht so frech sein, er müsse sich sonst
überlegen, ob eine Fortführung meines Ausbildungsvertrages noch
sinnvoll sei. Parallel hatte er eine andere Auszubildende nach vier
Wochen wegen Untauglichkeit nach Hause geschickt, weil deren Mutter
sich bei ihm mit den Worten beschwerte: „Meine Tochter hat einen
Lehrvertrag als Fotolaborantin und Fotografin und nicht als Putzfrau.“
Immerhin schickte er uns alle in die „Höhere Fachschule für das
grafische Gewerbe“ nach Stuttgart. Auch diese Schulzeit sog ich in mir
auf, wie ein ausgetrockneter Schwamm die Regentropfen.
Meine Kolleginnen schenkten mir zum Geburtstag mein erstes dickes,
deutsches Buch: Goethes Faust. Das war etwas, was ich unbedingt
verstehen wollte. Ich erzählte meiner Mutter, ich bräuchte für die
Berufsschule ein Wörterbuch und ein Lexikon. Das Geld bekam ich
schließlich von meiner Oma Anna, der Mutter meines Vaters.
Gleichzeitig lernte ich die Welt der Oper und Operette kennen, zwei
meiner Kolleginnen und ich fuhren einmal pro Monat mit dem Bus nach
Stuttgart in das Große Haus. Vorher kauften wir uns für eine Mark ein
Heftchen und lernten die Texte auswendig. Die Musik kannten wir schon
vorher, denn unser Ekel-Chef war Opern-, Operettenliebhaber, hatte vor
vielen Jahren in Wien selbst eine Schallplatte mit Operettenmelodien
aufgenommen. Mir gegenüber hatte er die sexuellen Übergriffe
eingestellt, schenkte mir zum Geburtstag und zu Weihnachten
Langspielplatten populärer Klassiker. Diese Schallplatten hätte ich
mir damals nicht leisten können.
Mit neunzehn Jahren wechselte ich die Arbeitsstelle und zog nach
Heilbronn. Obwohl in dieser Stadt noch Anfang der sechziger Jahre die
Ruinen wie bizarre Monster in den Himmel ragten, fühlte ich mich wohl.
Ich hatte endlich ein eigenes Zimmer, ein eigenes Zuhause. Endlich
konnte ich durchatmen und durchschlafen in meinem eigenen Mini-Reich.
Und ich durfte fast mein ganzes Geld für mich behalten; einen
Teilbetrag musste ich meiner Mutter geben. Ich strickte alle meine
Pullis und Jacken selbst, nähte von Hand Röcke und Sommerkleider.
Wolle und Stoffe kaufte ich für ein paar Mark im Resteladen.
Der Winter 1962/63 war einer der kältesten des 20. Jhd. Mein Zimmer
war eine ehemalige kleine Küche mit zugigen Fenstern, steinernem
Spülbecken, einem Holz-Kohle-Ofen, einem Bett, einem schmalen Schrank,
einem Tischchen und einem Stuhl. Der große Karton, in dem ich mir
meine wenigen Bücher per Post hatte nachschicken lassen, diente als
Bücherregal. Da die Wände nicht isoliert waren, war mein Waschlappen
morgens an der Wand festgefroren. Nachts zog ich zwei dicke
Strumpfhosen übereinander an und über den Schlafanzug einen Pullover
und einen Bademantel.
Im Fotoatelier waren wir fünf junge Frauen etwa im gleichen Alter. Wir
arbeiteten gemeinsam, verbrachten fast immer die Mittagspausen
miteinander, meistens bei einer einzigen Tasse Kaffee (zu mehr reichte
das Geld nicht) und unternahmen häufig auch an den Wochenenden etwas
gemeinsam. Und wir putzten nach Ladenschluss alle Räume. Das
bedeutete, dass wir fünfundvierzig Stunden pro Woche bezahlt bekamen,
jedoch über fünfzig Stunden arbeiten mussten. Volljährig wurden wir
erst mit einundzwanzig. Damals gab es weder ein Jugend- oder
Lehrlingsschutzgesetz noch Arbeitsschutzgesetze. Trotzdem freuten wir
uns über jede freie Minute, leisteten uns hin und wieder einen
Kinobesuch, diskutierten bis in die Morgenstunden über wichtige und
weniger wichtige Themen oder fuhren zu sechst in einem Auto ein paar
Kilometer Richtung Heidelberg, Stuttgart, Karlsruhe.
Ab Anfang der sechziger Jahre durfte man offiziell nach Jugoslawien
reisen. Ich hatte das ganze Jahr über gespart, um wenigstens für eine
Woche nach Jugoslawien reisen zu können. Dann stellte sich heraus,
dass mein Geld dank des günstigen Wechselkurses für zwei Wochen
reichen würde. Als ich an der Grenze die mir aus meiner frühesten
Kindheit vertraute Sprache hörte, stieg ein Gefühl in mir hoch, das
ich bis dahin nicht kannte. Und als ich dann durch meine
Sprachkenntnisse sowohl die jungen deutschen Urlauberinnen als auch
die jungen jugoslawischen Jungs vom Bootshafen im Schlepptau hatte,
wurden die zwei Wochen Urlaub für mich so etwas wie eine sich selbst
erhaltende Kettenreaktion von Glücksmomenten.
Inzwischen hatte ich meinen Mann kennengelernt. Auch wir fuhren in den
ersten Jahren im Urlaub nach Jugoslawien. Nachdem unser Sohn geboren
worden war, hörte ich auf zu arbeiten, da es zu jener Zeit keinen
Mutterschutz gab. Schonzeiten waren lediglich vier Wochen vor der
Geburt und acht Wochen danach. Wollte eine Frau ihre Arbeitsstelle
behalten, musste sie nach acht Wochen ganztags arbeiten.
Halbtagsstellen für Mütter gab es keine, demzufolge auch fast keine
berufstätigen Mütter. Als Fotolaborantin und Fotografin hätte ich
sowieso nicht mehr arbeiten können, da in dieser Branche
ausschließlich junge, unverheiratete Frauen tätig waren.
Parallel zu Kind und Haushalt besuchte ich eine Wirtschafts- und
Handelsschule, schloss eine kaufmännische Ausbildung ab, danach
Weiterbildung mit Abschluss Sekretärinnen-Diplom. Meine Tätigkeit in
der Verwaltung eines nur fünf Gehminuten von unserer Wohnung
entfernten Unternehmens konnte ich flexibel gestalten. Zwei Jahre
später wurde mir eine von einem namhaften Unternehmen gesponserte
Ausbildung „Büroorganisation und programmierte Textverarbeitung“
angeboten und die Leitung des Textverarbeitungssekretariats.
Staatliche Unterstützung gab es zu jener Zeit keine. Berufliche
Weiterbildung oder Umorientierung waren ausschließlich
Privatangelegenheiten. Außerdem waren Ehefrauen damals offiziell für
Heim und Herd zuständig, alles andere hatte einen Makel. Wenn Frau
sich trotzdem beruflich weiterentwickeln wollten, durfte sie dies nur
mit Einwilligung des Ehemannes tun, und zwar neben Haushalt und
Kindererziehung. Die Frauen bekamen gesellschaftlich-moralisch
keinerlei Rückendeckung. Im Haushalt mithelfende Männer wären
Waschlappen gewesen.
In den Unternehmen waren es immer die Frauen, die den Männern
zuarbeiten mussten, egal welche Qualifikation. Die Herren
Abteilungsleiter wollten Frauen aus ihren Kompetenzbereichen
fernhalten und glaubten, sie mit sexuellen Intrigen erpressbar machen
zu können. Ich hatte gelernt, mich zu wehren. Als ich merkte, dass mit
Offenheit und direktem Ansprechen heikler Vorgänge mehr Erfolge als
Misserfolge möglich waren, erreichte ich auch die Anerkennung als Frau
in leitender Position, die ich allerdings nach zwei Jahren dann doch
aus familiären Gründen aufgeben musste.
Unser Sohn war ein absolut pflegeleichtes Kind. Meine längeren
Fehlzeiten zu Hause wurden durch Nachbarschaftshilfen ausgeglichen.
Von Natur aus neugierig mit strukturierter Denkweise ausgestattet,
hatte unser Sohn sich sehr früh freigeschwommen. In schulischer
Hinsicht brauchte er von Anfang Grundschule über Gymnasium und Studium
keinerlei Nachhilfe.
Mein Mann hatte sich zwischenzeitlich selbstständig gemacht. Wir
bauten zusammen ein kleines Konstruktionsbüro der Sparte Maschinenbau
auf. Ich arbeitete damals in einem großen Unternehmen als
Sekretärin/Assistentin des Anlagenleiters, zeitweise auch für die
Direktion. Zu jener Zeit besuchte ich Sprachakademien im Ausland und
Seminare für Organisation, Zeitmanagement, Menschenführung. Um neben
meinem Job auch im Büro meines Mannes alle kaufmännischen Tätigkeiten
erledigen zu können, hatte ich zuvor in der IHK einen Meisterkurs in
Bilanzbuchhaltung abgeschlossen.
In den Jahrzehnten meiner Vollzeitbeschäftigung gönnte ich mir einmal
pro Jahr eine Auszeit. Ich flog als Rucksacktouristin rund um den
Globus. Meine Urlaube waren überwiegend eng mit der Natur verbunden,
ohne jeden Luxus, zum Beispiel mit vierzig Pferden durch Islands
Hochland, mit dem Bus quer durch die USA zusammen mit unserem Sohn,
mit Zelt und Kleinbus im Urwald Südafrikas unterwegs, drei Wochen im
Kilimanjaro-Gebiet bis hinauf auf den Kibo, durch Neuseeland per
Flugzeug, Bus und Pferd, aber auch mit meinem Mann in fast allen
Ländern Europas sowie quer durch Australien und drumherum.
Vor zwei Jahren erhielt ich von einem Ahnenforscher eine Dokumentation
über meine Vorfahren. Danach stammte der Ahne meines Vaters aus Bining
bei Bitche (Nordvogesen). Das wollte ich genau wissen, fuhr mit meinem
Mann hin und fand im Rathaus der Kleinstadt Rohrbach-les-Bitche ein
Kirchenbuch aus dem 18. Jhd., in dem die Geburts- und Taufdaten meines
Ahnen aus Bining festgehalten wurden. Tief berührt hatte mich, dass
dieser Ahne, der um 1760 (damals zwanzig Jahre alt) auf der Ulmer
Schachtel Richtung Südungarn fuhr, auf den Namen Johannes getauft
worden war, genau wie mein Vater knapp 180 Jahre später auch.
Nachdem ich Anfang 2000 ein Fernstudium mit Abschluss
„Schriftstellerdiplom“ absolviert hatte, schrieb ich, neben Beiträgen
für die Kulturredaktion unserer regionalen Zeitung und Berichten für
Vertriebenenorganisationen, zwei Bücher über Vernichtungslager und die
Verfolgung und Vertreibung Deutschstämmiger aus Jugoslawien.
Derzeit arbeite ich an einer biografischen Romantrilogie über die Zeit
nach dem zweiten Weltkrieg als Kind mit deutschem Namen im ehemaligen
Jugoslawien, aber auch als Flüchtlingskind im Nachkriegs-Deutschland -
eine gelebte Zeitdokumentation außerhalb von Statistiken und
Geschichtsbüchern.
Tatjana
Prescher
Sprache
ohne Land
Ich bin ein
Sonntagskind
Vor 56 Jahren und zwei Monaten brachte mich meine Mutter Jaroslava in
der Vojvodina in Ruski Krstur in der Geburtsklinik zur Welt. Kurze
Zeit später wurde ich auf den Namen Tatjana getauft. Was sollte das
für mich wohl bedeuten?
Als Heilige in der russischen und orthodoxen Kirche verehrt,um 222 n.
Chr., abgeleitet vom Sabinerkönig Titus Tatianus; die Schaffende, die
Kreative, die Glaubende, Gottes Gnade.
Mein Mädchenname ist Kolosnjaji. Dieser Name stammt aus der Habsburger
Zeit. Damals hat die Kaiserin Maria Theresia Ruthenen von der
Gornica in den Karpaten in die Batschka umgesiedelt.
Das Land dort war sumpfig und niemand wollte auf diesem Gebiet
Ländereien kaufen.
Vor dreihundert Jahren war Europa von Südosten her bis zu den Grenzen
des Habsburger Kaiserreichs zu großen Teilen beherrscht von den
Osmanen. Die sumpfige Gegend der pannonischen Ebene, zu der die
Batschka gehört, war sehr dünn besiedelt.
Meine Vorfahren waren ursprünglich Hirten und hatten in den Karpaten
keinen eigenen Grund und Boden. Sie bekamen Land in der Panonischen
Ebene zugeteilt. Ruthenen in der Batschka gehörten zum
österreich-ungarischen Hochheitsgebiet und wurden mit ungarischen
Namen als Eigentümern eingetragen. Kolosnjaji ist eigentlich ein
ungarischer Name.
Die Österreicher und die Ungarn sind weitestgehend katholische Länder.
Die Ruthenen entstammen dem orthodoxen Einflussgebiet. Sie wurden
unter der Herrschaft der Habsburger den Katholiken zugeteilt und so
kam es zum Kompromiss: Meine Vorfahren bezeichneten sich als
griechisch-katholisch und erkannten den Papst an.
Lange Zeit feierten sie die christlichen Feste nach dem julianischen
Kalender, wie sie auch beispielsweise in Serbien, Russland, Syrien
oder Eritrea gefeiert werden.
Meine Mutter Jaroslava hat mit 18 meinen Vater Janko geheiratet, den
sie schon vier Jahre kannte.
Mein Vater hat als einziger in seiner Familie studiert. Er hat
Maschinenbau studiert und dann musste er Militärdienst leisten. Ich
kam zur Welt, bevor er seinen Militärdienst abgeleistet hatte.
Zu dieser Zeit wohnte meine frischgebackene Mama noch in ihrem
Elternhaus.
Die ersten Bezugspersonen waren also meine Großeltern
mütterlicherseits und die zwei jüngeren Schwestern meiner Mutter, also
meine Tanten.
Mein Vater hat nach dem Militärdienst eine Arbeit in Sombor gefunden
und wir sind dorthin gezogen. Allerdings bin ich nicht in Sombor in
den Kindergarten gegangen.
Meine Mutter ist mit mir oft bei ihren Eltern gewesen, und ich bin in
Ruski Krstur in den Kindergarten gegangen.
Wir sind da mit dem Zug nach Vrbas gefahren, um dann mit dem Bus nach
Ruski Krstur zu kommen. Im Zug haben wir uns mit Gedichten und Liedern
die Zeit vertrieben. Ich habe damals nur russinisch gesprochen.
Russinisch heißt unsere Sprache und wir nennen uns Rusnaken. Die
Serben nennen uns Russinen und international werden wir Ruthenen
genannt. Die Ruthenen sind ursprünglich im Karpatengebirge beheimatet
gewesen. Dieses Gebiet wurde von verschiedenen angrenzenden Ländern
als ihr eigen gesehen.
Ein Teil lebte im als polnisch geltenden Gebiet und hat sich mit den
Menschen dort vermischt. Die ruthenische Sprache wird dort nicht
gesprochen. Die Polen hatten den Ruthenen ihre Sprache verboten und
sie zu den Polen gezählt. Inzwischen erkennt man sie dort als
nationale Minderheit an.
Die Ruthenen, die in dem von der Ukrainern beanspruchten Gebiet
lebten, wurden ebenfalls nicht als solche anerkannt. Die ruthenische
Sprache war ihnen auch nicht gestattet. Sie werden heute noch zu den
Ukrainern gezählt.
Aus Ukrainischer Sicht heißt das Heimatgebiet der Ruthenen
Transkarpatien.
Ein Teil lebte im Gebiet der heutigen Slowakei.
Die Slowakei hat als einziger Staat den Ruthenen die ruthenische
Sprache erlaubt und sie als Ruthenen, oder wie sie dort genannt
werden: Russinen, anerkannt.
Der Vollständigkeit halber ist zu sagen, dass es Ruthenen auch in
Rumänien gibt.
Ein weiterer Teil lebte im nordöstlichen Gebiet Ungarns. Dort
durften sie weder die Sprache beibehalten, noch war ihre
Nationalität anerkannt. Sie wurden dort als Ungarn bezeichnet.
Über den Tellerrand
Ich wohnte als kleines Kind also in Sombor. Sombor liegt unweit von
der ungarischen Grenze im Norden und kroatischen Grenze im Westen. Und
wir waren die einzigen Ruthenen in Sombor. Hier sprachen die Menschen
größtenteils Ungarisch oder Serbisch. An die Zeit in Sombor kann ich
mich nur noch vage entsinnen.
Aber meine Besuche bei Oma und Opa in Krstur habe ich noch gut in
Erinnerung behalten.
Ich kann mich auch an das Gefühl der Enttäuschung erinnern, als ich
bei meinen Großeltern morgens aufgewacht bin, und mein Großvater schon
längst zur Feldarbeit gefahren war.
Aber manchmal habe ich ihn noch erwischt, wie er im Begriff war mit
der Pferdekutsche zum Feld zu fahren. "Djiiiiiiido" habe ich da hinter
ihm hergeschrien und bin ihm weinend hinterher gelaufen.
Er musste mich mitnehmen.
Er hat unter anderem Paprika, Mais oder Melonen angebaut. Mit ihm habe
ich die köstlichsten Wassermelonen gegessen. Meinen "Djido" habe ich
über alles geliebt. Und ich war das älteste Enkelchen, d. h., ich habe
ihn acht Jahre lang für mich alleine gehabt. Dann musste ich lernen zu
teilen, weil ich ein Brüderchen bekommen habe.
Ich hatte auch Freunde in der Nachbarschaft. N. ist in meinem Alter.
Sie hat eine ältere und eine jüngere Schwester und einen jüngeren
Bruder. Wir spielten immer miteinander, wenn ich bei meinen Großeltern
war.
Auch unsere Mütter verstanden sich gut.
Die erste Klasse besuchte ich in Becej, da hatte mein Vater am
Polytechnikum als "Professor" doziert. Er war gerne Lehrer und liebte
seine Fächer.
Am 26.05.18 hat er in Becej das 50-jährige Jubiläum der Absolventen
mit seinen ehemaligen Schülern gefeiert.
Becej liegt östlich von Ruski Krstur, und der Weg von dort zu meinen
Großeltern war genauso weit und beschwerlich, wie von Sombor aus. Von
der Zeit in Becej sind mir auch nur Bruchstücke haften geblieben.
Ich kam mit sechs Jahren in die erste Klasse der Schule Sever Djukic.
In der Schule musste ich dann serbisch sprechen. Wir lernten mit dem
"Bukvar" auch kyrillisch schreiben. Aber das war die serbische
kyrillische Schrift. Für mich war das die erste Fremdsprache. Ein
Mädchen namens Ivana wohnte im gleichen Wohnhaus und wir sind zusammen
in die Schule gelaufen.
Mit Ivana bin ich auch oft zu ihrer Oma mitgegangen, sie wohnte nicht
weit von der Schule. Ivanas Oma hat uns Polenta gekocht und wir haben
sie dann mit Milch und Zucker gegessen.
Als das Technikum, in dem mein Vater gearbeitet hatte, geschlossen
wurde, fand er eine Arbeit in Ada.
Nachdem wir dahin gezogen sind, kam ich in die zweite Klasse der
Schule Csech Karoly.
Ada liegt noch näher an der ungarischen Grenze. Wir waren hier wieder
die einzigen Ruthenen.
In der Schule habe ich auch die ungarische Sprache kennen gelernt.
Alle Kinder mussten in der Schule Ungarisch lernen. Es lebten dort
viele Ungarn.
Mir fiel es in der Schule sehr schwer Ungarisch zu lernen, da es nicht
im Geringsten dem ähnelte, was ich vorher kannte.
In Ada bekam ich ich Klavierunterricht und ging fleißig zu einer
Freundin zum Üben. Sie hatte ein Klavier und sie konnte schon gut
spielen.
Das Jahr zuvor, 1969, ist die jüngste Schwester Zlatka meiner Mutter
mit Freunden nach Deutschland gegangen. Dort hat sie einen Deutschen
geheiratet und meine Eltern überlegten sich, ob sie nicht auch nach
Deutschland auswandern sollten.
1970 bekam ich ein Brüderchen, an einem Sonntag. Er wurde auf den
russischen Namen Igor getauft.
In der dritten Klasse lernte ich die lateinische Schrift. In Serbien
lernten die Kinder zuerst die Kirilica und dann die Latinica. In
Kroatien war es umgekehrt.
Zufällig habe ich genau zu der Zeit auch ein deutsches Mädchen namens
Nicole kennen gelernt und habe einen ersten Eindruck von der deutschen
Sprache bekommen. Meine Eltern redeten mit mir über ihre Pläne. Mein
Bruder war zu der Zeit gerade mal ein Jahr alt.
Ich war schon immer neugierig, genauso wie meine Eltern und die
Neugierde siegte auch. Wir wollten auswandern.
Meine Eltern fuhren im Februar 1971 mit zwei Koffern nach Deutschland
und ließen mich bei meiner Patentante Irina, der zweiten Schwester
meiner Mutter. Sie arbeitete in Novi Sad als Journalistin beim Verlag
"Dnevnik" und war Chefredakteurin der russinischen Zeitschrift "Ruske
Slovo". Sie hatte als einzige von den drei Schwestern studiert. In
dieser Zeit ging ich in russinischen Zusatzunterricht. Es gibt eine
russinische Grammatik und eine russinische Schrift.
Der Begründer der russinischen Schriftsprache ist Havriil Kostelnik.
Er war Kaplan in Ruski Krstur.
Seine Grammatik der Sprache der Russinen in der Batschka kam 1923
heraus.
Ich kann immer noch russinisch lesen und schreiben. Zumal ich durch
meine Patentante die russinischen Bücher lieben gelernt habe. Sie
selbst hat auch Bücher auf Russinisch verfasst.
Das zweite Halbjahr der dritten Klasse ging ich in die Schule Jovan
Popovic in Novi Sad.
Novi Sad ist die Hauptstadt der autonomna pokrajina (autonome Provinz)
Vojvodina. Vojvodina gehört zu Serbien.
Diese Stadt wird auch Neusatz genannt und hat auch einen ungarischen
Namen: Újvidék (Steht auf auch dem Orstschild). Und sie ist das
kulturelle Zentrum von Vojvodina. Bis Ende des 17. Jahrhunderts hatten
die Osmanen die Pannonische Tiefebene mit der Batschka in ihrer Gewalt
und dann wurden sie von Österreich-Ungarn aus diesem Gebiet
vertrieben. Ein österreichisch-russischer Feldmarschall hat die
Osmanen aus der Gegend in die Flucht geschlagen und hat mit dem Bau
der Burg Petrovaradin bei Novi Sad begonnen. Die entscheidende
Schlacht gegen die osmanischen Besatzer wurde in Senta, einer Stadt
nördlich von Ada, unter Prinz Eugen geführt. Und danach hatte die
habsburger Monarchie den Plan, die befreiten sumpfigen Gebiete der
Batschka neu zu besiedeln. Unter anderem wurden die Ruthenen dazu
auserkoren, das Gebiet bewohnbar zu machen.
Ich beendete also die dritte Klasse in Novi Sad.
Mein Bruder blieb bei meinem Onkel, dem ältesten Bruder meines Vaters
in Ruski Krstur. Ich war oft mit meiner Cousine und meinem Cousin
zusammen, wenn ich in Krstur war.. Mein Bruder wurde dort so ziemlich
von allen verhätschelt, war ja noch ein Baby. Meine Eltern waren sehr
glücklich darüber, dass sie jemanden hatten, bei dem der kleine Igor
gut aufgehoben war.
Meine Eltern holten uns in den Sommerferien 1971.
Wir zogen nach Oberbiel in Hessen, nicht weit von Wetzlar.
Die deutsche Grammatik
In Hessen hat die Schule nach den Sommerferien ein wenig später
angefangen als in Serbien.
Ich hatte also Zeit, mich mit der deutschen Sprache zu beschäftigen.
Meine Eltern gingen beide arbeiten. Mein Vater arbeitete bei der Firma
Kling, die nach einigen Jahren von der Firma Kugelfischer übernommen
wurde. Meine Mutter arbeitete bei Philips, wie ihre Schwester und ihr
Schwager.
Wir wohnten zunächst bei ihnen und dann bekamen wir in Oberbiel ein
Zimmer mit Küche und WC im Flur. Wir zogen also in die
Freiherr-vom-Stein-Straße 4.
Da war schon das erste sprachliche Problem, welches meinen Vater immer
wieder beschäftigte: Warum hieß dieser Freiherr nicht "von"? Aber
dessen ungeachtet lernte mein Vater auch fleißig Deutsch, so wie ich.
Er wollte nämlich den Führerschein machen, um in den kommenden
Sommerferien selbst nach – damals noch – Jugoslawien zu fahren. Wir
fuhren dann regelmäßig einmal im Jahr nach Jugoslawien, die ganzen
Sommerferien über.
In Oberbiel wohnte gegenüber von uns ein Mädchen. Antje ging mit mir
in die Grundschule Oberbiel. Wir waren in der gleichen Klasse. Sie ist
die jüngste von vier Schwestern. Ihr Vater arbeitete bei einem
Audihändler. Mein Vater bestand die Fahrprüfung. Unser erstes Auto war
ein Audi, wir hatten es günstig über den Papa vom Nachbarsmädchen
bekommen.
Überhaupt mussten wir mit dem Geld sehr vorsichtig umgehen. Wir hatten
ja nichts, außer zwei Koffer, als wir nach Deutschland kamen. An die
erste Einkaufstour kann ich mich dementsprechend gut erinnern: Ich
habe die ersten zwei Hosen und einen rot-weiß gestreiften Pulli
gekauft bekommen und musste auf meine Kleidung gut aufpassen. Leider
nutzte sich der Stoff von den Hosen schnell ab und es entstanden
überall Fussel.
Ich versuchte den Fusseln Herr zu werden und schnitt leider in eine
Hose ein Loch. Jetzt musste ich eben eine geflickte Hose tragen. Von
Antje wurde ich auch das erste Mal zu einem Kindergeburtstag
eingeladen. Solche Kindergeburtstage kannte ich nicht. Es gab bei uns
nur etwas zu essen und zu trinken und wir spielten einfach, was uns
einfiel. Bei Antjes Geburtstag lernte ich zum Beispiel das Spiel "Topf
schlagen" kennen. Auch kannte ich den Sankt-Martins-Brauch nicht. Die
Kinder nahmen mich das erste Mal mit zum Laternensingen und wir
bekamen jede Menge Süßigkeiten. Wie im Schlaraffenland.
In der Schule hatte ich anfangs Probleme mit dem Schreiben. Meine
Diktate fielen wohl so eindeutig aus, dass man beschloss, mich in den
Förderunterricht in Deutsch zu schicken.
Dort lernte ich unter anderem, dass der Hahn in Deutschland anders
kräht als in Ruski Krstur: Der Lehrer fragte, ob denn jemand weiß, wie
der Hahn kräht. Und ich traute mich zu antworten: "Kukuriku".
Dem Schuldirektor Stoll habe ich es zu verdanken, dass ich heute
selbst Deutsch unterrichte.
Ich war so dankbar und so glücklich endlich Hilfe zu bekommen, dass
ich am Ende der vierten Klasse keine Fünf im Zeugnis hatte. Mein
erstes deutsches Zeugnis ist gar nicht so schlecht.
In Mathematik hatte ich schon in Serbien vieles gelernt, dieses Fach
fiel mir in der vierten Klasse nicht schwer.
Leider hatte ich keine Ahnung was ich im Religionsunterricht lernen
soll. In Serbien hatten wir so etwas nicht. Serbien war sozialistisch.
Der 25. Mai war in der SFR Jugoslawien der Tag der Jugend. Wir Schüler
studierten dafür etwas ein und führten es dann vor. Die älteren Kinder
waren "Pioniere". Sie haben alle rote Pionierstücher um den Hals
gebunden bekommen und blaue Kappen und sollten vortanzen.
Da es in Oberbiel keine weiterführende Schule gab, musste ich in der
fünften Klasse nach Wetzlar fahren. Ich kam in die Eichendorff-Schule,
eine Gesamtschule.
Meine Eltern fanden bald eine Wohnung in Wetzlar-Dalheim. Mein
Schulweg dauerte nur ein wenig länger als zehn Minuten zu Fuß. In
Dalheim lernte ich Rosalie kennen. Wir wohnten nicht weit entfernt
voneinander und spielten öfter zusammen. Wir luden uns zu unseren
Kindergeburtstagen ein, wir spielten draußen im Park, wir lernten
zusammen, machten Hausaufgaben und wir backten Kuchen. Mein erster
Kuchen war ein Käsekuchen. Meine Mutter schimpfte mit mir. Sie musste
sich wieder Zutaten besorgen, da ich sie verbraucht hatte. Das Problem
war wieder das Geld.
Aber der Käsekuchen hat geschmeckt.
Ich war lange Zeit ein Schlüsselkind. Mein Bruder war im Hort in
Wetzlar.
Da meine Eltern immer erst später von der Arbeit kamen verbrachte ich
auch viel Zeit mit Lesen.
Mein Onkel Karl-Heinz, hat mir ein Märchenbuch geschenkt, die Märchen
der Gebrüder Grimm.
Mit der Zeit konnte ich immer besser lesen und verschlang geradezu
Märchen und Jugendliteratur.
Ich ging oft zur Bücherei nach Wetzlar und holte mir Nachschub.
Ein Stück Heimat
Meine Großeltern kamen für sechs Jahre nach Deutschland. Sie wohnten
in Oberbiel, wo meine Tante und Onkel auch wohnten. Wir sahen uns
jedes Wochenende. Das linderte ein wenig den Trennungsschmerz. Bald
kam die erste Tochter meiner Tante zur Welt. Meine Cousine. Die Oma
wurde also dringend gebraucht.
In Wetzlar hatte ich zusätzlich zum Schulunterricht Unterricht in
Serbisch. Ich ging zum Zusatzunterricht mit anderen
Gastarbeiterkindern. Allerdings hatte ich sonst keinen Kontakt mit
Landsleuten. Während der Woche kam ich nicht mit serbischen Kindern
zusammen. Mit den anderen habe ich Deutsch gesprochen, oder eben
Russinisch mit meinen Eltern.
Aber ich konnte noch gut Serbisch. Meine Eltern haben für mich die
Kinderzeitung: "Politikin Zabavnik" abonniert. Sie kam lange Zeit
regelmäßig zu uns nach Deutschland und ich las sie gerne.
Leider hatte ich den Zusatzunterricht nicht durchgehend, außer der
Sprache lernte ich nicht viel über die Socijalisticka Federativna
Republika Jugoslavija (Sozialistische Föderative Republik
Jugoslawien).
Irgendwann machte die Firma Kling in Wetzlar zu und mein Vater kam zur
Firma FAG nach Schweinfurt in Bayern.
Wir zogen im April 1977 nach Schweinfurt. Zunächst bekamen wir eine
4-Zimmer-Wohnung in einem Betonklotz namens Wohnscheibe. Meine Mutter
bekam auch einen Arbeitsplatz bei "Kugelfischer" und so hatten es
meine Eltern nicht weit zur Arbeit.
Ich wurde beim Alexander-von-Humboldt-Gymnasium angenommen.
In Schweinfurt ging ich weiterhin zum Zusatzunterricht in Serbisch.
Wir lernten die Sprache, Landeskunde und Geschichte.
Am Gymnasium hatte ich zunächst Probleme, aber man zeigte Verständnis
dafür, dass ich von einer Gesamtschule in Hessen nach Bayern aufs
Gymnasium gewechselt hatte und ich bekam Probezeit bis zum ersten
Halbjahr der zehnten Klasse.
Ich hatte Sehnsucht nach Wetzlar und nach meinen Großeltern.
Sie sind dann wieder nach Ruski Krstur zurückgekehrt. Dort haben sie
sich ein neues Haus gebaut. Das alte wurde zum Teil stehen gelassen
und sie verwendeten es als Werkstatt.
Eine Romanze
Das Leben ging weiter. Ich besuchte einen Tanzkurs. Ich sang im
Schulchor.
Ich trat in die Theater-AG ein. Dies genoss ich. Ich lernte die Dramen
lieben.
Und ich belegte sogar Französisch und Russisch als Wahlpflichtfächer.
Ich lernte andere junge Leute kennen. Karin aus der Nachbarschaft
hatte fast den gleichen Schulweg. Wir trafen uns öfter. Wir gingen
zusammen zum Schützenhof. Ich meldete mich an und übte mich im Zielen.
Wir gingen zusammen zum Volkstanz.
In der Theater-AG lernte ich Doris kennen. Sie bekam oft die
Hauptrollen. Sie war einfach unübertrefflich.
Einmal nahm ich sie mit nach Ruski Krstur. Doris war von der Gegend
sehr angetan und mochte die Sprache. Wir wurden sogar zu einer
russinischen Hochzeit eingeladen.
Eine traditionelle russinische Hochzeit läuft nach folgendem Muster
ab:
Zunächst wird die Braut in ihrem Elternhaus von den Trauzeugen, engen
Freunden und Verwandten und dem Bräutigam abgeholt. Die Trauzeugen
verhandeln über den Preis der Braut und geben sie erst her, wenn der
Preis stimmt, also genug Geld angeboten wird (das Gebot hoch genug
ist). Anschließend gibt es für die Anwesenden ein Mittagessen.
Und danach führt der Bräutigam die Braut in die Kirche.
Die Hochzeitsgäste folgen dem Brautpaar. Es sind meistens mehr als 100
Gäste eingeladen und sie dürfen ihre Freunde mitnehmen. Alle bekommen
eine bestickte Schärpe aus weißem Leinen, an die ein Rosmarinzweig
festgesteckt wird.
Nach der Trauung wird im Festsaal die Hochzeitsfeier eröffnet und es
gibt einen Imbiss. Danach wird bis zum Abendessen getanzt und
gefeiert. In der Regel spielt eine Kapelle und es wird oft Csardas
getanzt. Zum Abendessen werden bestimmte Gerichte serviert:
Hühnersuppe, gekochtes Fleisch, gegrilltes Fleisch, Krautwickel und
Salat. Dazu wird Weißbrot gereicht. Zum Schluss dreht man den Teller
um und dann kommt Torte oder Kuchen darauf.
Für Doris war der Besuch in Ruski Krstur eine richtige Attraktion.
Dieses Erlebnis hat sie so sehr beeindruckt, dass sie später sogar,
wie ich, Slawistik studierte.
Mit Wetzlar hatte ich immer weniger Kontakt. Wir fuhren nicht mehr so
oft hin.
Das Abitur nahte. Was sollte aus mir werden.
In der Wohnscheibe, wo wir wohnten, befanden sich nur Sozialwohnungen
und wir wollten aus diesem sozialen Brennpunkt weg. Das Geld war immer
noch knapp und es war schwer für uns eine Wohnung zu bekommen.
Meine Eltern kauften sich eine Wohnung, da sie sie über ihren
Arbeitgeber zu günstigeren Bedingungen bekamen. Das Geld war immer
noch knapp.
Ich lernte Andreas kennen.
Andreas und ich lernten zusammen fürs Abitur. Wir schrieben die
Prüfungen. Wir traten zu den Kolloquien an. Die Noten waren schlecht,
aber wir haben bestanden.
Andreas und ich verlobten uns.
Ich schrieb mich an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg
ein: Slawistik und Germanistik.
Andreas wählte Wirtschaftsingenieur an der Fachhochschule Schweinfurt.
Wir waren während der Woche in verschiedenen Städten.
1983 beschloss mein Bruder nach Serbien zu ziehen und dort weiter zur
Schule zu gehen.
Ich war immer noch mit Andreas zusammen.
Er bekam einen Arbeitsplatz in Stuttgart und zog dorthin.
Wir haben Ende 1987 geheiratet. Seitdem lautet mein Nachname Prescher.
Ich bestand die Magisterprüfung und wohnte jetzt mit Andreas
in Stuttgart.
Was sollte ich jetzt tun?
Verirrungen
Ich schrieb mich in Tübingen an der Eberhard-Karls-Universität für ein
Postdiplomstudium ein.
In dieser Zeit lernte ich wieder eine interessante Person kennen:
Lisa.
Sie studierte wie ich, Slawistik aber mit Anglistik als Nebenfach. Und
Lisa kannte sich in Kirchengeschichte und Kirchenrecht aus und sie
hatte gute Verbindungen zur katholischen Kirche in Süßen.
Wir arbeiteten zusammen als wissenschaftliche Hilfskräfte.
Ich bekam vorgeschlagen, eine Untersuchung des Ruthenischen im
Hinblick darauf, ob es als Dialekt oder als eigenständige Sprache
eingeordnet werden kann, vorzunehmen.
Dazu sollte ich in den ruthenischen Zentren Ruski Krstur, Kucura und
Djurdjevo Interviews mit Ruthenen unterschiedlicher Altersgruppen
führen.
In den Semesterferien reiste ich von einem ruthenischen Dorf zum
anderen und interviewte verschiedene Personen.
Parallel bewarb ich mich auf Stellenangebote. Leider erfolglos.
Irgendwann wurde ich dann schwanger.
Dies änderte alles. Meine Tochter Alina kam 1991 zur Welt.
Ich unterbrach mein Postdiplomstudium. Ich habe leider nicht mehr an
meiner Untersuchung für die Doktorarbeit weitergemacht.
Es waren andere Aufgaben zu bewältigen. Ein Kind zu erziehen ist nicht
einfach.
Mit Lisa zusammen organisierten wir 1991 die ökumenische Trauung mit
einem ruthenischen Pfarrer, der in Nürnberg griechisch katholische
Messen für die Ruthenen aus der Umgebung abhielt und einem
katholischen Pfarrer in Süßen. Der ruthenische Pfarrer Kiril Plancak
und Pfarrer Kilian Hönle trauten Andreas und mich gemeinsam und
anschließend wurde die Taufe meiner kleinen Alina gemeinsam
vorgenommen.
Die deutschen Verwandten reisten mit dem Bus in Süßen an. Ich habe
nicht so viele Verwandte in Deutschland aber alle kamen und sogar mein
Großvater kam aus Ruski Krstur.
Ich war sehr glücklich darüber.
Doch überschatteten damals die politischen Ereignisse mein Glück. In
meinem Jugoslawien nahm das Verhängnis seinen Lauf. Es begannen die
Jugoslawienkriege.
1994 wurde dann mein Sohn Andrej geboren und wir kamen 1995 aus
beruflichen Gründen nach Heilbronn.
Mein drittes Kind, mein Töchterchen Mariangela, kam 1997 in Bad
Friedrichshall zur Welt.
Sie studiert jetzt auch Slawistik.
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genannten Server-Log- Files, die Ihr Browser automatisch an uns
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Betriebssystem, Referrer URL, Hostname des zugreifenden Rechners,
Uhrzeit der Serveranfrage. Diese Daten sind nicht bestimmten
Personen zuordenbar. Eine Zusammenführung dieser Daten mit anderen
Datenquellen wird nicht vorgenommen. Wir behalten uns vor, diese
Daten nachträglich zu prüfen, wenn uns konkrete Anhaltspunkte für
eine rechtswidrige Nutzung bekannt werden.
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den Fall von Anschlussfragen bei uns gespeichert. Diese Daten
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